Überraschender Kurswechsel: Jetzt Merkels Dieselwende

Damit hatte niemand mehr gerechnet. Die Kanzlerin greift durch. Deutschland steigt aus der Dieseltechnologie aus.

Kampf gegen Feinstaub „nationale Aufgabe“. Unionsparteien atmen auf. SPD will sich nicht verweigern. Grüne signalisieren Bündnisbereitschaft. Spürbare Aufbruchstimmung in Deutschland.

I.

Damit hatte niemand mehr gerechnet. Die Kanzlerin greift durch. Nachdem sie Tage lang geschwiegen hatte, trat Angela Merkel vor die Hauptstadtpresse. Ihr Statement war knapp und karg und kam über das Land wie ein Tsunami. Nichts ist mehr so, wie es bisher gewesen ist. Deutschland steigt aus der Dieseltechnologie aus. Die letzten Diesel-PKWs laufen bereits in der kommenden Woche vom Band. Autobesitzer, die ihr Dieselfahrzeug freiwillig stilllegen, können mit staatlicher Unterstützung rechnen. Für ersatzweise angeschaffte dieselfreie Fahrzeuge will Berlin fünf Jahre lang auf Kfz-Steuer verzichten. Für LKWs soll eine zweijährige Übergangsfrist gelten. Die Kanzlerin forderte die Automobilindustrie auf, auch den Export von Dieselfahrzeugen einzustellen: „Wir können weltweit Vorbild sein“.

II.

Vorausgegangen waren für die Kanzlerin quälende Wochen. Die Flüchtlingskrise hatte Schlagzeilen und Talkshows beherrscht. Das Stimmungsbarometer der Kanzlerin war deutlich gesunken, Kritik auch in ihrer eigenen Partei angeschwollen. Selbst der Koalitionspartner hatte die Tatenlosigkeit der Regierung und die Überforderung der Behörden attackiert. Im Lager Merkels war bereits offen mit Schwarz-Grün spekuliert worden. Umso mehr, als die Serie von Landtagswahlen im kommenden Jahr angesichts der Flüchtlingsmisere das Schlimmste befürchten lässt. Doch nun könnte der zuletzt glücklosen Kanzlerin ein Befreiungsschlag gelungen sein. Während Medien und Experten noch darüber spekulieren, ob und wie der Niedergang der deutschen Automobilindustrie durch den Abgasschwindel bei Volkswagen aufzuhalten sei, entschloss sich Angela Merkel zur großen Lösung.

III.

Der entschlossene Kampf gegen Feinstaub sei eine nationale Aufgabe, sagte sie. Es handle sich um eine Frage der Moral, die Entscheidung sei deshalb alternativlos. Die Automobilindustrie brauche jetzt nicht Schutz, sondern Druck. Nur wenn sie sich im freien Wettbewerb behaupten müsse, werde sie auch zu Höchstleistungen getrieben. Sie sei davon überzeugt, so die Kanzlerin, dass der Schritt das Ansehen der deutschen Automobilindustrie weltweit steigern werde. „Wir schaffen das!“, fügte  sie unter dem ungewohnten Beifall der Bundespressekonferenz hinzu. Die Dieselwende wird von einer dafür eigens berufenen Ethikkommission begleitet. Ihr gehören neben Umweltorganisationen und Sozialwissenschaftlern auch Vertreter der großen Religionen an, Reinhard Kardinal Marx, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, wies darauf hin, dass Deutschland damit dem Kurs folge, den bereits Papst Franziskus erfolgreich eingeschlagen habe. Der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm sagte, endlich werde der christliche Kern der Marktwirtschaft nicht mehr nur in Sonntagsreden beschworen. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, gab der Hoffnung Ausdruck, dass sich Deutschland nun wieder auf seine wahren Probleme konzentrieren werde.

IV.

Ersten Umfragen zufolge begrüßt die Mehrheit der Bevölkerung Angela Merkels Dieselwende. Die telefonische Blitzumfrage der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag des ZDF ermittelte 62,2 Prozent Zustimmung. „Verwundert“ äußerten sich nicht genannt sein wollende Politiker der Unionsparteien. Weder die Bundestagsfraktion noch Parteigremien seien von Merkels Kurswechsel unterrichtet oder gar damit befasst worden. Bisher hatte Merkel als überzeugte Autokanzlerin gegolten, nicht anders als alle ihre Vorgänger im Kanzleramt. Der Vorsitzende der Grünen, Anton Hofreiter, sprach von einer längst überfälligen Maßnahme. Die Stimme der Vernunft habe endlich gesiegt. „Wenn sie uns braucht, sind wir dabei“, sagte er an die Adresse der Kanzlerin. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel äußerte sich verhaltener. Es bleibe nun zu hoffen, dass der Ausstieg die notwendigen Innovationen erzwingen werde. Die Rettung des Weltklimas erfordere zweifellos auch harte Maßnahmen. Allerdings dürften diese nicht allein auf dem Rücken der Arbeitnehmer getroffen werden. Selbst in Kreisen der Industrie trifft die Entscheidung nicht nur auf Ablehnung. Der Sprecher der Automobilindustrie, Matthias Wissmann, betonte in einer ersten Stellungnahme, das Image eines Landes und seiner Wirtschaft beruhe darauf, dass es pflichtbewusst und gesetzestreu zugehe. Darauf baue er nach wie vor. Ein Sprecher der Bayerischen Motorenwerke gab bekannt, sein Unternehmen lasse prüfen, inwieweit Schadensersatzansprüche gegenüber der Bundesrepublik Deutschland geltend gemacht werden können.

V.

Von den deutschen Grenzen werden inzwischen kilometerlange Staus gemeldet. Offenbar sind die Halter von Dieselfahrzeugen auf der Flucht und versuchen ihre Automobile im europäischen Ausland los zu schlagen. Die Maßnahme sei mit Brüssel nicht abgesprochen, betonte ein Sprecher der EU-Kommission und lehnte jede Mitverantwortung ab. Meldungen, wonach Polen und Tschechien ihre Grenzen für deutsche Autofahrer bereits geschlossen haben, wurden von den Regierungen in Prag und Budapest nicht bestätigt. Zeugen berichten jedoch von chaotischen Zuständen. In Salzburg soll ein erstes Auffanglager für deutsche Dieselfahrzeuge in Betrieb genommen worden sein.

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