Unbegleitete Minderjährige – Integration oder Rückkehr – Reintegration

Fast alle mit uM oder UMF befassten Akteure in Deutschland scheinen davon auszugehen, dass der Lebensmittelpunkt der uM künftig in Deutschland liegt und damit Integrationsmaßnahmen vorwiegen sollen. Überlegungen zur Rückführung und Reintegration der uMs im Herkunftsland werden so gut wie nicht angestellt. Experte Bernd Leber berichtet.

© Johannes Simon/Getty Images

Es gibt mittlerweile etwa 60.000 unbegleitete Minderjährige (uM) in Deutschland, und deren Zahl nimmt mit der anhaltenden Zuwanderung weiter zu. Der Diskurs fast aller mit uM befassten Akteure in Deutschland scheint von der Prämisse  auszugehen, dass der Lebensmittelpunkt der uM künftig in Deutschland liegt und damit Integrationsmaßnahmen vorwiegen sollen. Überlegungen zur Rückführung und Reintegration der uMs ins oder im Herkunftsland werden so gut wie nicht angestellt.

Ob der Minderjährige selbst oder der bestellte Amtsvormund ohne Konsultation der Familie im Herkunftsland, insbesondere der Eltern, eine so weitreichende Entscheidung überhaupt treffen kann und darf, ist fraglich, insbesondere wenn man Aspekte wie das Aufenthaltsbestimmungs- und das Sorgerecht der Eltern berücksichtigt: Kein inländischer Ausreißer würde ohne Weiteres und ohne Konsultation der Eltern etwa in einer Jugendhilfeeinrichtung untergebracht; in vielen Fällen ist hierfür sogar eine gerichtliche Entscheidung durch ein Vormundschaftsgericht herbeizuführen, und die Entscheidung kann durchaus auch gegen den Wunsch des Minderjährigen getroffen werden.

Andererseits kann auch nicht von vornherein akzeptiert werden, wenn die Eltern (meist mit finanzieller Investition in den Transfer des Jugendlichen) die Sorge für Unterkunft, Unterhalt und – erhoffter- Ausbildung einfach dem europäischen Zielland überlassen (kiddy dumping). [1]

Im Gegensatz zur vielfach geäußerten Meinung bei zuständigen Stellen der Jugendhilfe wie bei Ausländerbehörden gilt das gesetzliche Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 AufenthG nicht allgemein für uMs, sondern nur für Fälle, in denen im Herkunftsland keine Angehörigen vorhanden sind oder wenn im Falle einer Rückkehr mangels geeigneter Schutzeinrichtungen (staatliche Jugendhilfeeinrichtungen, NGO etc.) zu befürchten ist, dass Hunger oder ein Leben am Rande des Existenzminimums und damit eine extreme Gefahr für Leib und Leben droht (Pudera 2009: S. 40f).

Im Umkehrschluss bedeutet dies allerdings, dass bei Vorliegen dieser Voraussetzungen (also identifizierbare Familienangehörige, ein nationales staatliches System von Jugendhilfe, karitative Einrichtungen und NGOs) eine Rückkehr – ggf. einschließlich geeigneter Reintegrationsmaßnahmen – in Frage kommt – auch gegen den Willen des betroffenen Jugendlichen durchzusetzen.

Die Beendigung des Aufenthalts von uMs geschieht entweder durch freiwillige Rückkehr in die Herkunftsländer oder erzwungene Rückkehr mit oder ohne vorheriger Abschiebungshaft. Die freiwillige Rückkehr hat bislang statistisch gesehen einen eher geringen Stellenwert. Im Jahr 2005 nahmen 54 uM an entsprechenden Programmen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) teil [2]. 2008 etwa waren es 19 Minderjährige. Hinsichtlich der erzwungenen Rückkehr gelten im Sinne des Kindeswohls strengere Kriterien als bei Erwachsenen, diese werden jedoch je nach Bundesland unterschiedlich ausgelegt. Genaue Zahlen über in den letzten Jahren durchgeführte Abschiebungen unbegleiteter Minderjähriger sind nicht vorhanden. Auch in Bezug auf Abschiebungshaft ist das vorliegende Zahlenmaterial lückenhaft.

Die bisherigen Jugendhilfe-Konzepte und deren Ergebnisse sind bislang nicht ermutigend, auch wenn die Träger solcher Maßnahmen aus ersichtlichen Gründen optimistische Signale verbreiten, die aber bislang nicht durch unabhängige externe Evaluierungen belegt sind. Auch die Versuche, sozialpädagogische Konzepte für die auffällige uMs (Straftäter, Intensivtäter) umzusetzen, sind bisher kaum erfolgreich: das gilt sowohl für die Einrichtung spezieller geschlossener sozialpädagogischer Einrichtungen (in Bremen noch geplant, in Hamburg schon wieder aufgegeben) als auch bei Umgang mit und Zielsetzung hinsichtlich verurteilter Straftätern in Jugendhaftanstalten. Das vorrangige Ziel von Jugendhaft, nämlich die Reintegration in die (deutsche) Gesellschaft, kann kaum als realistisches und erreichbares Ziel gelten: die offenbar fehlgeschlagene Integration wird sicher nicht in einer deutschen Jugendhaftanstalt erreicht. Das Ziel gerade bei Straftätern sollte vielmehr die sozial verträgliche Rückführung und Reintegration in die Herkunftsgesellschaft sein. Ebenso bleibt abzuwarten und ggf. zu evaluieren, welche Wirkungen die Tätigkeiten der haupt- und ehrenamtlichen Amtsvormünder und sonstigen Institutionen und Akteuren der Jugendhilfe überhaupt erzielen. Das gilt nicht zuletzt auch für die Rolle und die Zielsetzungen zivilgesellschaftlicher Gruppen, die sich dieser Zielgruppe annehmen.

Alternativen im Umgang mit der uM-Problematik

Bislang scheinen alle Akteure sowohl auf staatlicher Seite wie bei den zivilgesellschaftlichen Akteuren darin übereinzustimmen, dass ein dauernder Verbleib der uM in Deutschland im Vordergrund steht. Dieser Verbleib ist  trotz erkennbarer Probleme – zu sichern und auszugestalten: Integration ist also angesagt.

Demgegenüber sind bislang kaum Überlegungen angestellt worden, die eine Rückkehr und eine Reintegration in Herkunftsländer, besonders aber in Herkunftsfamilien thematisieren.

Dies dürfte u.a. auch damit zusammenhängen, dass – wie oben schon erwähnt – ständig unterstellt wird, es handle sich bei uMs allesamt um Flüchtlinge – und eine Rückkehr ist bei schutzbedürftigen Flüchtlingen keine Option.

Dem steht aber der Befund der schon erwähnten Studie des European Migration Network zum Phänomen der uM in der EU entgegen, in der neun verschiedene Zuwanderungsgründe aufgeführt werden und von „wirtschaftlichen und anderen Erwartungen (z.B. kostenlose Schulbildung), über Anschluss an eine bestehende Diaspora, Familienzusammenführung, Menschenschmuggel bis hin zu Verwaisung reichen. Flucht/Asyl ist dabei nur einer dieser neun Gründe (EMN 2010).

Geht man aber davon aus, dass die Abwanderungsmotivation auf der sozial defizitären Situation der Herkunftsfamilien oder auf individuellen Motiven beruht, so ergeben sich drei idealtypische Migrationsmotive, denen die uM zuzuordnen sind:

Ausreisser

Hier handelt es sich um Jugendliche, die in selbständiger Entscheidung, sich den sozialen und wirtschaftlichen Zwängen der Familie und des sozialen Umfeldes entziehen. Ausreisser ohne belastbare familiäre Bindungen weder im Herkunftsland noch in der Diaspora laufen in vielen Fällen Gefahr, Opfer von Menschenschmugglern zu werden, insbesondere dann, wenn etwa für die „Gebühr“ für illegale Transfers (auch und gerade per Schiff oder Boot) finanzielle Forderungen des Schleppers gegenüber dem uM entstanden sind, die dann auf – meist illegale Art- im Zielland abgearbeitet werden müssen. Vor allem auf den Trans-Sahara-Routen an die Mittelmeerküste (wie auch auf der Route Horn-von-Afrika-Sinai-Israel) ist die Geiselnahme von Migranten (meist durch lokale Beduinen-Clans in Ägypten und in Libyen) zur Erpressung von Lösegeld durch Verwandte ein verbreitetes Geschäftsmodell geworden, dem gerade Minderjährige in besonderer Weise ausgesetzt sind. [3]

Förderung durch Verwandte (Guardian-System)

Dies meint den Anschluss an entferntere Verwandte in der Diaspora, von denen der Unterhalt der uMs entsprechend sozialer Gepflogenheiten erwartet werden kann.

Stipendiat:

Hinter dieser Kategorie steht die nicht unrealistische Erwartung, dass der Gast-Staat den Unterhalt sichert und Schul- und Berufsausbildung bereitstellt („free education“). In diesen Fällen wird anstelle von Familienangehörigen der (deutsche) Staat als ein „Guardian“ betrachtet und gezielt in Anspruch genommen (kiddy dumping).

Jugendhilfe-Zielsetzung – Primat der Familie

Insgesamt scheinen die derzeit gängigen Maßnahmen ein grundlegendes sozialpädagogisches Leitprinzip außer Acht zu lassen: nämlich den Primat der Familien, die in erster Linie für deren Kinder verantwortlich sind –oder ggf. in die Lage versetzt werden sollten, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Konkret bedeutet das die Einleitung und auch Durchsetzung einer sozial verträglichen Rückkehr sowie ggf. angemessene Reintegrationsmaßnahmen in den Herkunftsländern. Die Begünstigten solcher Maßnahmen könnten sowohl die Jugendlichen selbst als auch deren Familien sein.

Dies ist z.B. bei entsprechenden aktuellen Situationen etwa in Afrika völlig anders: in Nigeria etwa liegt der Schwerpunkt staatlicher Intervention bei aufgegriffenen uMs (meist aus Nachbarländern) auf der Rückkehr und Reintegration in die Herkunftsländer, entweder zu den Herkunftsfamilien oder zur Inobhutnahme durch die dortigen staatlichen Jugendhilfeeinrichtungen. [4]

Suchdient nach Familien / Tracing

Praktiker der Jugendhilfe geben zu, dass – abgesehen von gelegentlichen Kontakten zu Konsulaten und Botschaften – kaum Erfahrungen darin bestehen, Herkunftsfamilien im Ausland ausfindig zu machen; oft scheitert dies schon an angemessenen funktionalen Sprachkenntnissen der Bearbeiter. Nationale und vor allem internationale Organisationen mit Erfahrung im „Tracing“ (Suchdienst, z.B. International Social Service, Rotes Kreuz, UNICEF, UNHCR, IOM u.a.) sind in diesem Kontext so gut wie unbekannt. Hinzu kommt, dass rückkehrunwillige uMs (was die Mehrzahl der uMs sein dürfte) kaum bereit sind, entsprechende Hinweise zu geben. Andere Möglichkeiten, diese Informationen zu erhalten (Handykontakte mit Familien, Geldtransfer von bzw. an Familien; Kontakte zu Verwandten in der Diaspora etc.) bleiben offenbar völlig ungenutzt. [5]

Sozialer Sprengstoff
Drei unangenehme Fakten über minderjährige Flüchtlinge (UMF)
Deshalb ist es – zumindest im deutschen Kontext – einigermaßen optimistisch, wenn die EMN-Studie feststellt, dass „alle EU-Länder Anstrengungen unternehmen, die Angehörige von uMs zu suchen, zuweilen im Zusammenhang mit einer Rückkehr ins Herkunftsland“. Für Deutschland wird festgestellt (wohl auf Grund entsprechender Angaben der staatlichen Akteure), dass man zum Tracing mit UNHCR, IOM und dem Suchdienst des Roten Kreuzes zusammenarbeitet (EMN 2010:88ff).

Allerdings wird auch eingeräumt, dass nur in wenigen Fällen solche Kontakte tatsächlich hergestellt werden konnten. In einigen Fällen wird auch befürchtet, dass bei Kontaktaufnahme zurückgebliebene Familienmitglieder versucht sein könnten, dem bereits in der EU befindlichen uM zu folgen (EMN 2010:S 68ff) [6].

Tatsächlich versuchen die meisten Jugendämter lediglich, Verwandte der uMs im Inland ausfindig zu machen oder aber Pflegefamilien zu verpflichten, die mit Zuwendungen von 1.500 € bis 2.000 € monatlich erheblich billiger sind als sonst notwendige stationäre Unterbringungen (für 3.000 € – 5.000 € monatlich).

Kooperation mit ausländischen Einrichtungen der Jugendhilfe

Gerade in den nordafrikanischen Ländern existiert ein dem europäischen  Standard durchaus vergleichbares System von Jugendhilfe und Sozialarbeit. Die Vorstellung, man könne in Deutschland mit sozialpädagogischen Mitteln, Personal und Einrichtungen wirksam auf jugendliche Migranten aus außereuropäischen Kulturkreisen einwirken, dürfte in den meisten Fällen weniger erfolgreich sein als etwa eine professionelle sozialpädagogische Intervention im eigenen Kulturkreis des uM.

Die Herstellung solcher Kontakte, die Erarbeitung gemeinsamer Projekte und ggf. auch die Förderung der einheimischen Institutionen durch entsprechende Kooperations-Vereinbarungen (auf Länderebene, auf Bundesebene) dürfte ein vielversprechendes Feld künftiger transnationaler Sozialarbeit sein.

Reintegrationsförderung im Herkunftsland

Bei einem Verbleib in Deutschland ist in den meisten Fällen mit stationärer oder teilstationärer Unterbringung einschließlich Begleitmaßnahmen mit Kosten von 3.000 € – 5.000 € pro Monat zu rechnen. Es ist offensichtlich, dass mit einem wesentlich geringeren Teilbetrag, der für Rückkehr- und Reintegrationsmaßnahmen im Herkunftsland aufzuwenden wäre, pädagogisch wie kulturell passendere und effizientere lokale Jugendhilfemaßnahmen in den Herkunftsländern und durch lokale Träger zu finanzieren wären. Dies könnte bei Bedarf durchaus fachliche Beratungselemente durch deutsche oder internationale Fachorganisationen beinhalten. Zu denken wäre dabei an fachliche Unterstützung bei sozialpädagogischen Konzeptionen, die (Weiter-) Entwicklung geeigneter methodischer Instrumente; z.B. transnationaler Fall- oder Hilfekonferenzen, fachlichem Monitoring der Maßnahmen pro Fall, Verbleibstudien der Begünstigten Jugendlichen und anderer Evaluierungsmaßnahmen, die zusammen von den beteiligten (deutschen wie ausländischen) Partnern regelmäßig durchgeführt werden sollten.

Derartige Programme sollten über die Reintegration hinaus auch eine präventive Wirkung haben, die die Abwanderung weiterer unbegleiteter Minderjähriger verhindert oder zumindest reduziert [7]. Hierzu würden Beiträge zu z.T. schon existierenden Kommunikationsstrukturen zur Prävention / Vermeidung von Abwanderung gehören (vor allem in den sozialen Medien).

[1] Hier spielen auch bestimmte Traditionen eine Rolle: z.B. das Abgeben von “überzähligen” kindern an religiöse oder para-religiöse Institutionen (Klöster in Äthiopien/Eritrea, sog. islamische „Marabouts“ in Westafrika). Hinzu kommt die allgemeine soziale Verpflichtung gegenüber überlassenen Kindern durch sog. „Guardians“, eine Art Pflegeverhältnis innerhalb der Großfamilie oder des Clans, das oft mit unbezahlter Arbeit der Pflegekinder verbunden ist.

[2] Assisted Voluntary Return Programme – AVRP

[3] IOM betreibt seit einiger Zeit Opfer-Schutzprogramme für solche Geiseln auf der Sinai-Route

[4] Feststellungen anlässlich einer Evaluierung des EU-Projektes „Better Migration Management in Nigeria“, August 2015

[5] Dagegen sind die organisierten Schlepper und insbesondere die Lösegelderpresser auf den Transitrouten Sahara und Sinai ohne Probleme in der Lage, umgehend die Kontakte zu Familie und Verwandten zum Zwecke der Lösegelderpressung herzustellen

[6] Allerdings zeigt die Praxis, dass derartige Kontakte (meist via Smartphone und Internet) ohnehin stattfinden mit dem Ziel, bei –oft nur angeblich- erfolgreicher Installation des uM weitere Verwandte (meist Brüder, Cousins etc. in ähnlichem Alter) folgen zu lassen

[7] Z.B. in Zusammenarbeit mit dem „Missing Migrant Project“ von IOM, in dem über soziale Medien auf die Gefahren der Kooperation mit Schleppern und den von Schleppern angebotenen Passagen zur illegalen Einreise übers Meer (Lampedusa / Sizilien / Kanaren / Gibralter) informiert wird; der Hinweis auf verschollene Migranten soll von derartigen Geschäften abschrecken

Bernd Leber war als Migrationsexperte Mitarbeiter bei UNHCR und IOM in Afrika und Nahost tätig und ist Berater für Migrationsmanagement mit seinem Beratungsbüro proMig Consult vor allem für die EU tätig.

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