Am Ende siegt die Kraft der Freiheit

Der freie Gedanke und die freie Rede entziehen sich jeder politischen Macht, egal wie raffiniert und rücksichtslos diese vorgeht. Aber diesen Schluss müssen Sie aus Andreas Rödders Buch selbst ziehen.

„Die Grenzen zwischen edlen Absichten und unterdrückender Bevormundung sind fließend.“ Der Historiker Andreas Rödder meint mit diesem Satz nicht den aktuellen Streit zwischen Befürwortern und Gegnern der Zuwanderung. Er passt aber auch für diesen – und zwar auf doppelte Weise: Für den Streit innerhalb Deutschlands und den offenen Dissens zwischen Deutschland und praktisch allen anderen Ländern Europas innerhalb und außerhalb der EU.

Rödder schließt mit diesem Satz seine Betrachtung der Frage, ob „der Westen“ als „politisch-normatives Konzept“ taugt. Etwas, was der Westen, nicht nur in Gestalt der USA, nach dem Ende der Sowjetunion de facto in seiner Politik bejahte. Der Demokratie-Export war plötzlich fast unumstritten, selbst seine alten Gegner in Westeuropa verstummten weitgehend oder unterstützten ihn wie große Teile der Grünen am Balkan aktiv.

Rödder: „1990 schien das ‚Ende der Geschichte‘ zum Greifen nahe. Der Westen hatte auf ganzer Linie gesiegt und mit ihm das Zivilisationsmodell von individueller Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft.“ Richtig daran ist, dass diese Sicht von den meisten im Westen das folgende Jahrzehnt über geteilt wurde. Der Gedanke, dass der Westen nicht gesiegt hatte, sondern der Osten verloren, drang nicht durch. Ich erinnere mich, dass dieser Einwand von nahezu allen als Haarspalterei abgetan wurde. Zu groß war die Euphorie über den Fall der Mauer und die scheinbar unaufhaltsame Ausdehnung von EU und NATO.

Vater Nationalstaat

Das Kapitel „Vater Staat“ handelt exakt von den Fragen, die mit dem Großthema Migration, den Stichworten Grexit und Brexit sowie dem Emporkommen nationalistischer Strömungen in allen Staaten Europas in die zentrale münden: Wiederbelebung oder Überwindung des Nationalstaats? Rödder zeigt uns, wie sich der Nationalstaat entwickelt hat, wie ihn viele vor 1990 auf dem Rückzug sahen und wie er „durch die europäischen Revolutionen von 1989/1990 eine Renaissance erlebt.“ Trotzdem blieb der größere Teil der deutschen Elite bis heute bei der Sicht des Nationalstaats, die Oskar Lafontaine 1988 formulierte: „Seine politischen Einrichtungen können der globalen Probleme nicht Herr werden. Es ist an der Zeit, ihn durch demokratisch legitimierte, transnationale politische und staatliche Organisationen zu ersetzen, die wirksam eingreifen können.“

Dem entspricht der Brüsseler Slogan von der immer tieferen Europäischen Union, gegen den sich heute der britische Premier David Cameron wendet. Rödder beschreibt die ganz verschiedene Bedeutung von Nation im Begriff Nationalstaat. In der angel-sächsischen Welt meint der „nation state“ ganz nüchtern das Staatswesen und das Staatsvolk. In der deutschen Nation kommen „Abstammung, Sprache, Kultur und Geschichte ins Spiel“. In der aktuellen Migrations-Debatte richtet sich der Fokus wieder mehr auf Einheimische versus Hinzukommende – nicht nur in Deutschland, sondern nach den Osteuropa-Staaten zunehmend in den skandinavischen Ländern: Das soziale Konfliktpotential tritt langsam hinzu.

Wie unübersichtlich der Nationalstaat als Begriff ist, macht der Blick auf die USA und China deutlich. Inzwischen stimmt das mit der Sprache als Klammer in Nordamerika nicht mehr für alle Sozialschichten und Regionen. In China spricht nur die hochgebildete Schicht Mandarin, das Reich der Mitte ist ein Vielvölkerreich. Aber China wie die USA agieren als Nationalstaaten. Rödder: „Es geht also um das Staatswesen, konkreter um den Territorialstaat“, allerdings längst mehr, nämlich um das, wo der Nationalstaat die Macht allein ausübt, um die Souveränität. Dieser Nationalstaat hat sich als „nordwesteuropäische Erfindung“ weltweit ausgebreitet, nicht die US-Vorstellung von Demokratie, auch wenn die vielen Nationalstaaten ganz und gar nicht von vergleichbaren „Emotions- und Loyalitätsempfindungen“ ihrer Einwohner gekennzeichnet sind.

Die Freiheitshoffnung Cyberspace geht fremd

Die Digitalisierung hat Hoffnungen auf neue, staatsfreie Ordnungen geweckt wie einst der Freihandel, den die Nationalstaaten durch Handelsabkommen in Protektionismus verwandelten, wie sie jetzt dabei sind, Kontrolle über den Cyberspace zu erringen: „In China wird der ökonomische Wachstumsprozess von einem stark handelnden Staat gelenkt. In Indien hat illegale Migration zu einer Befestigung der Grenzen zu Bangladesh und zu einer vertieften Staatlichkeit geführt, die sich in der biometrischen Identifikation von Staatsangehörigen niederschlägt.“ Rödder spricht es hier nicht an, aber amerikanische Nobelpreisträger stellen wiederholt die Frage, ob autoritäre Regime wie China den Demokratien des Westens mit ihrem kurzfristigen Wahltermin-Horizont der Politiker und dem West-Kapitalismus mit seinem kürzest-fristigen Börsen-Horizont nicht überlegen sind.

Unveränderte Fronten: Homogenität versus Multikulti
"Eine kurze Geschichte der Gegenwart" – Teil 1: Migration und Integration
Wir leben also in einer Welt, in der sich alles neu sortiert wie immer wieder in bestimmten Phasen der Geschichte, konstatiert unser Autor. In der Frühen Neuzeit gewann der Staat Kompetenz militärisch, wirtschaftlich und infrastrukturell, während er sie in der Religion verlor. Im Cyberspace ist der Staat nach den Hackern, Piraten und Konzernen durch seine Geheimdienste wie die NSA zu neuer Macht gekommen. Die Weltfinanzkrise und die Euro-Schuldenkrise haben den Nationalstaat mächtiger gemacht als vorher. Und die Schlüsselkompetenz des Nationalstaats ist der Sozialstaat geworden. Ganz genau so wie der Kapitalismus, formuliert Rödder, „haben sich auch die Staaten, genauer die staatlichen Exekutiven, als adaptionsfähig erwiesen, auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene, in unterschiedlichen Souveränitätsformen und in unterschiedlichen Institutionalisierungen.“ Eine Mischung von Globalisierung und Regulierung führe zu immer mehr unübersichtlicheren Entscheidungsformen, nicht auf Kosten des Nationalstaates, sondern von Demokratie – und Freiheit und Recht füge ich hinzu.

Von Rödders Darstellung des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie kürze ich hier zu seiner Feststellung ab: „Die großen Erzählungen und die geschlossenen Theorien – die marxistische Theorie des Kapitalismus und der keynesianische Glaube an die Steuerbarkeit der Wirtschaft ebenso wie der Friedmansche Glaube an die rationale Funktionalität und das Gleichgewicht der Märkte oder die Geldmengentheorie – haben ihre Glaubwürdigkeit verloren. Mit der historischen Erfahrung des 21. Jahrhunderts ist der Optimismus sowohl von Keynes als auch von Friedman perdu.“

„Postdemokratie“

Damit sind wir bei der These von Colin Crouch zur „Postdemokratie“, in den westlichen Demokratien würden zwar noch Wahlen abgehalten, aber die öffentliche Debatte verkomme zu einem inszenierten PR-Spektakel, gesellschaftlich wirksame Entscheidungen würden zunehmend außerhalb demokratischer Institutionen getroffen. Von da zur „Medialisierung“ der Demokratie führt eine gerade Linie zur Schleifung der Profile der Parteien und zur (oft nicht einmal) unterhaltsamen Inszenierung von Personen und Persönchen, Skandalen und Skandälchen auch.

Rödders Ausführungen zu „Modell Deutschland der Problem Deutschland“ lesen, heißt mitten in der aktuellen Lage landen: „Der deutschen Politik bleibt nur eine Gratwanderung, auf der die Balance zwischen nationalen Interessen und europäischer Integration, zwischen deutscher Führung und internationaler Einbindung  immer wieder neu auszutarieren ist.“ Von solcher Balance ist die Regierung Merkel in diesen Wochen wohl ziemlich weit entfernt.

„Neues vom alten Europa“ ist eine ausführliche Beschreibung, die weit zurückgreift und schon deshalb lohnt, weil kaum jemand von uns Normalos solche Zusammenhänge, Brüche und Kontinuitäten präsent hat. Gefährdet wird die konstruktive Überwindung der verschiedenen Formen von Grenzen „durch die Verselbständigung und Überdehnung einer ‚immer engeren Union‘, die das Gegenteil des Gewollten erreicht. ‚Die Stärke der EU‘, so formulierte es der ehemalige Verfassungsrichter Dieter Grimm, ‚liegt in einer klugen Begrenzung'“. Dieses Fazit Rödders ist nicht falsch, aber spätestens heute zu wenig. Die Regierungen der Kernländer müssen die Frage „welche Union?“ neu auf die Tagesordnung setzen. Mit dem Juncker’schen faktischen Verwaltungshandeln ohne demokratische Legitimation ist spätestens in der Migrationskrise kein Blumentopf mehr zu gewinnen.

Am Beginn seines Schlusses sagt Rödder: „Dieses Buch versucht, die Phänomene der Gegenwart in historischer Perspektive einzuordnen. Resümierend möchte es fünf Neuigkeiten des frühen 21. Jahrhunderts vorstellen, fünf historische Muster identifizieren, die wir mindestens seit dem 19. Jahrhundert kennen, und schließlich drei allgemeine Tendenzen benennen.“

  • Novum 1: Digitalisierung und rhizomatisches Denken „Denken in Kategorien von Netzwerken statt kausal-genetischer Logik, wie sie die abendländische Tradition geprägt hat, wird zu einer neuen Form der Weltaneignung.“
  • Novum 2: Der anthropogene Klimawandel „Soll der Globus durch eine ‚große Transformation‘ klimafreundlich umgestaltet werden, oder setzt man besser auf viele einzelne Maßnahmen des technologischen Fortschritts?“
  • Novum 3: Der Aufstieg der anderen „Das Problem Europas ist nicht der Aufstieg der anderen, sondern die Wettbewerbsschwäche einzelner europäischer Staaten.“
  • Novum 4: Die europäische Integration „Gefahr droht … von der Verselbständigung und Überdehnung einer ‚immer engeren Union‘, die ihre eigenen Gegenkräfte hervorruft.“
  • Novum 5: Wahlfreiheit der Lebensformen „Geburtenrückgang und gestiegene Lebenserwartung … bringen die Notwendigkeit mit sich, Alter als Phase im Lebensverlauf ganz neu zu denken.“
  • Muster 1: Familie „Formen wandeln sich, aber … die Bereitschaft zur Solidarität zwischen Menschen … (ist) ungebrochen …“
  • Muster 2: Beschleunigung und Anpassung „… lösen sich die Regierungen und das Regieren von nationalen Parlamenten und Gewaltenteilung, demokratischer Legitimation und verfassungsmäßigen Regelbindungen.“
  • Muster 3: Die Asymmetrie zwischen Kapitalismus und Demokratie „… eine kumulierende Staatsverschuldung auf internationalisierten Finanzmärkten führte in vielen Ländern zu einer fatalen Liaison aus nach Krediten dürstenden Staaten und renditehungrigen Banken.“
  • Muster 4: Internationale Konflikte und Gewalt „Noch größere Gewaltpotentiale … in der Ausweitung fundamentalistisch-islamistischer Regime im Nahen Osten und in Nordafrika …“
  • Muster 5: Die deutsche Stärke in Europa „Von Deutschland wird Führung verlangt, die schnell, wenn tatsächlich ausgeübt, als Dominanz kritisiert wird. Mit der deutschen Stärke bleibt auch das deutsche Dilemma.“
  • Tendenz 1: Das Entschwinden des 20. Jahrhunderts „… ging aus der Dekonstruktion der überkommenen Ordnung die Konstruktion einer neuen hervor: die Kultur der Inklusion.“
  • Tendenz 2: Die Verschiebung des Rahmens, die Kultur der Inklusion und der Wandel der Freiheit „… mit der Euro-Schuldenkrise verschoben sich die Prinzipien der auf Selbstverantwortung und Wettbewerbsfähigkeit gegründeten Europäischen Währungsunion in Richtung Solidarhaftung und Transferunion, und in der politischen Ökonomie kehrte die staatsinterventionsfreundliche Makroökonomie zurück.“
  • Tendenz 3: Umgang mit Ungewissheit „Nur wer offen dafür ist, dass alles auch ganz anders sein mag als gedacht, kann die Chancen des Unvorhergesehenen nutzen.“

Rödders Buch kann ich allen empfehlen,

  • denen, die nur wissen wollen, wie es so weit kommen konnte, und
  • jenen, die sehen wollen, wo wir ansetzen müssen, um die Chancen des Unvorhergesehenen zu nutzen.

Europa hat sich schon mehrfach wieder neu erfunden. Dieses Mal wird es genauso sein. Am Ende siegt die Kraft der Freiheit. Ihr Raum, der freie Gedanke und die freie Rede, entzieht sich jeder politischen Macht, egal wie raffiniert und rücksichtslos diese vorgeht.

Andreas Rödder: 21.0 Eine kurze Geschichte der Gegenwart. C. H. Beck 2015.

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