Brexit – Deutschland verliert in jedem Fall

Wie riskant ist der Brexit? Paradoxerweise liegen die Risiken nicht so sehr bei Großbritannien, sondern eher bei Deutschland. Es verliert in jedem Fall, egal ob die Briten drin bleiben oder das sinkende Schiff verlassen.

Die Börse ist ein herzloses Luder. In der Minute nach dem Mordanschlag auf Jo Cox sprang der Dax um rund 100 Punkte. Am Montag nach Öffnung noch einmal um 400 Punkte. Das sind fette 5 % Kursgewinne in ein paar Tagen. Während sich manche vom Mord tief betroffen die Augen aus dem Kopf heulen, platzt bei Spekulanten das Geld aus den Knopflöchern. Die Börse fällt, wenn Unsicherheit ihren Kopf hebt wie das Ungeheuer von Loch Ness. Dann machen die Fixen Gewinne. Andersherum genau so; wenn das Ungeheuer verschwindet, ist auch wieder Party. Deshalb ist es so unkundig, wenn am Wochenende ARD und ZDF weinerlich auf die Börsen verweisen und die angeblich unkalkulierbaren Folgen des Brexits. Er ist nicht unkalkulierbar. Und die Börsen gewinnen immer – beim Rauf wie beim Runter. Ein bisschen tiefer darf man blicken: Der Ausgang ist nach wie vor offen, aber in jedem Fall für Deutschland schlecht.

Die Angstkampagne – „Projekt Fear“

Nach zwei Tagen Ruhe in der Kampagne drehte Dabei-Bleiber und Premierminister David Cameron noch mal den Angst-Regler ganz auf: Nach dem Brexit drohe  ein Jahrzehnt Unsicherheit mit „steigenden Preisen, niedrigeren Löhnen, weniger Jobs, weniger Chancen für die nachkommende Generation. Ständig fortschreitende Verarmung in jeder Hinsicht. Gehen Sie dieses Risiko nicht ein,“ so Cameron am Sonntag zum Schlussspurt.

Das ist der Höhepunkt seiner Angstkampagen; „Projekt Fear“ spottet dazu Christopher Booker, publizistisches Urgestein und Kolumnist des Sunday Telegraph. Ungewollt haben Cameron und seine Campaigner der EU einen Bärendienst erwiesen: EU steht für Mutlosigkeit, Angst vor der Zukunft, Sorge vor unumgänglichen Veränderungen. Die „Bloß-Raus-Hier“-Kampagne agiert dynamisch, hoffnungsfroh und optimistisch: Ohne die lähmende Brüsseler Regelwut mit ihren 17.000 Gesetzen werde die britische Wirtschaft, schon heute eine der wachtumsstärksten vergleichbarer Staaten, geradezu entfesselt auf Expansionskurs gehen.

Inzwischen überholte Großbritannien, das wirtschaftlich zwischen den 70er und 90er Jahren schwächelte, Italien und zuletzt auch Frankreich beim Bruttosozialprodukt pro Kopf der Bevölkerung. Seit der Finanzkrise wuchs Großbritannien in den letzten Jahren mit über 2% viermal so schnell wie die Euro-Zone mit durchschnittlich 0,5%. Britannien wehrt sich gegen einen immer marktwirtschaftsfeindlicheren europäischen Zentralstaat. Brexit steht für Wachstum und weniger Bürokratie.

Europa, das ist für die Ängstlichen – die Freiheit von Europa die Hoffnung der Mutigen. Diese Botschaft bleibt haften.

Kein Export mehr?

Tatsächlich lässt sich wirtschaftlich schwer begründen, warum der Ausstieg Großbritannien so mörderisch treffen soll. Deutschland exportiert mehr nach Großbritannien, als es von dort einführt; schon daher wird GB zukünftig so behandelt werden wie die Schweiz oder Norwegen: als Teil einer Freihandelszone. Was London nicht mehr leisten muss, wenn es die EU verlässt, sind 9 Milliarden € für die Brüsseler Umverteilungsbürokratie. Zollhürden wären eher ein Problem für Deutschland – nicht für Großbritannien. Die Bundesrepublik exportierte Waren im Wert von 91,9 Milliarden Euro nach Britannien und importierte Güter im Wert von 44,1 Milliarden Euro. Wer genau  hat hier Interesse am Freihandel?

Helds Ausblick, Folge 11/2016
Brexit – Eine Tür ins Freie
Schwierig wird es für einen Teil der Banken in London; bestimmte Geschäfte lassen sich außerhalb der EU und der Eurozone nicht tätigen. Diese würden dann nach Paris oder Frankfurt abwandern. Aber machen wir uns nichts vor: Geldgeschäfte sind virtuell; ihr Import oder Export erfolgt per Datenleitung. Vermutlich würden ein paar Brückenköpfe und Pro-Forma-Büros in Kontinental-Europa ausreichen, um den Finanzplatz zu stabilisieren. Der lebt von der Möglichkeit, viele Akteure zu treffen und von den Experten des Geldgewerbes. Und möglicherweise wird London dann zur neuen Schweiz, wenigstens im Kleinen: Lieber sein Geld in London anlegen, statt es dem Zugriff der Euro-Umverteiler auszusetzen; dies ist ein starkes Argument für London. Die Kompetenz liegt ohnehin dort. Zu glauben, dass ein paar Sparkassenangestellte schnell zu Investmentbankern umgeschult werden könnten, die dann die Geschäfte aus Frankfurt führen, ist wohl eher lächerlich. Abgesehen davon zeigen sich die Briten auch von einer Schwächung des Finanzplatzes nicht sonderlich beeindruckt: „Goldman-Sachs, die Bilderberger, die Davos-Groupies, die Big-Business-Men und die Karrieristen sollten über Großbritannien entscheiden“, höhnte der Telegraph über die besonders lauten Befürworter der „In“-Kampagne.

Es geht um Einwanderung

Ohnehin spielen wirtschaftliche Argumente nicht die Rolle, wie in Deutschland vermutet wird. Es ist eine Debatte um Einwanderung. Ausgerechnet Angela Merkel ist das schlagkräftigste Argument der „Raus-hier“-Bewegung. Die von Merkel ermöglichte unkontrollierte Masseneinwanderung stößt auf breite Ablehnung. Großbritannien wehrt sich nicht gegen Zuzug – London ist vermutlich noch vor New York die bunteste Metropole der Welt. Aber es geht um Steuerung. Gerade die ärmeren Schichten fühlen sich bedroht von immer neuen Einwanderungswellen. Inder und Pakistanis seit den 60ern; Osteuropäer und Polen seit den 90ern – immer neue Wellen haben Großbritannien verändert, das anders als Deutschland keine Zuzugsverbote für Osteuropäer nach dem EU-Beitritt von Polen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien für sich in Anspruch nahm. Aber die nordafrikanische Elendswanderung nach Deutschland macht neuerdings misstrauisch, insbesondere die muslimische Komponente wird kritisch gesehen – vor allem, da sie ohne jede Kontrolle und Identifikation der Personen erfolgt. „Ein Pole, der aus dem Bus steigt, ist schon besser integriert als ein Muslim nach Jahrzehnten“, bilanziert der Evening Standard. Allein für diese Zeile wäre er in Deutschland schon verdammt – britische Zeitungen agieren härter.

Angesichts der Armutszuwanderung unqualifizierter Afrikaner in Deutschland haben die „Raus-Hier“- Befürworter leichtes Spiel. Sie fordern Rückgewinnung der Kontrolle über die Außengrenzen – etwas, was laut Merkel in Europa nicht möglich ist. Das sehen die Inselbewohner aber ganz anders. Löst sich Großbritannien aus der EU, dann heißt paradoxerweise einer der Hauptverantwortlichen dafür Angela Merkel, die sich sonst als Retterin Europas sieht.

Ein anderes Europa

In der Debatte wird aber auch klar, dass es unvereinbar unterschiedliche Positionen zur europäischen Zukunft gibt. Großbritannien will gerade keine ständige „Vertiefung“ der Union, eine Forderung, die in keiner Rede eines deutschen Politikers fehlen darf. Großbritannien will gemeinsam Probleme lösen, aber nicht die Hingabe von Nation, innerer und äußerer Sicherheit, schon gar nicht des Militärs und Verwässerung seiner Demokratie. Brüssel aus Sicht der Brexit-Befürworter ist nicht nur Bürokratie – Brüssel ist zutiefst undemokratisch: Die regierenden „Kommissare“ nicht gewählt, das Parlament nach seltsamen Regeln bestimmt, in denen die Stimmen aus kleinen Ländern bis zu sieben mal so viel zählen – ein Graus für ein Land, das „One man – one vote“ als unausweichliche Formel der Demokratie erfunden und nach langen Kämpfen auch durchgesetzt hat. Der Europäische Gerichtshof schließlich entscheidet weniger auf Basis gemeinsam verabschiedeter Gesetze, sondern nach schwer zu durchschauenden Ideologien, die von den Richtern verfolgt werden: Was lange vor sich hinköchelte, in der Brexit-Debatte bricht es auf: Das Misstrauen gegen das Demokratie-Defizit in der EU, das sich nicht mindert, sondern sogar erhöht.

Die Folgen für Deutschland

Damit scheinen die Risiken des Brexit ungleich verteilt. Deutschland will eine Vertiefung der Union, schon weil seine Regierungen Angst vor der eigenen Bevölkerung haben. „German nationalism can only be contained by a united Europe“ – der deutsche Nationalismus kann nur über ein vereintes Europa eingedämmt werden, schrieb der Welt-Autor Alan Posener im Guardian und beschwört die Gefahr eines 4. Reiches.  Der deutsche Furor, das den Deutschen innewohnende Böse werde sonst zur Gefahr für sie selbst und für Europa, wenn sie nicht durch die weise Lenkung der Brüsseler Kommissare zivilisiert und in ihren Handlungsmöglichkeiten begrenzt werden? Über so viel Spintisiererei zucken Briten nur die Achsel. Das ist bezeichnend: Während Deutschland sich selbst zum Verschwinden bringen will, beharrt Großbritannien auf seiner Selbstständigkeit, bei allen Schwierigkeiten, und auch bei allen Härten, die die Selbstbehauptung mit sich bringen mag. Die darf sogar etwas kosten – denn sie hat einen Wert für sich. Die Selbstbindung, weil man der eigenen Bevölkerung nicht traut und sie vor sich selbst schützen müsse – das ist eine Vorstellung, die so verquer ist, dass sie in Großbritannien nur Kopfschütteln auslöst. Aber die Konsequenzen sind klar: Ohne Großbritannien, das den europäischen Superstaat als elementare Bedrohung seiner Freiheit ansieht und ihn deshalb bekämpft, wird der Weg genau dahin schneller beschritten.

Und ohne das britische Plädoyer für Demokratie und Marktwirtschaft scheint der Weg in die französischen Planification von Wirtschaft und die politische Herrschaft europäische Eliten über entmündigte Kleinbürger gepflastert. Scheitert der Brexit aber, hat Großbritannien keine Durchsetzungskraft mehr; ein Verzicht auf den Brexit käme einer Kapitulation seiner Werte in Europa gleich und beschleunigt auch den Weg in den Superstaat.

Machen die anderen mit?

Kommt es aber zum Brexit, und mit dem Brexit nicht zum befürchteten, sofortigen Ruin der Insel, werden sich auch andere auf den Weg machen. Denn die mangelnde Dynamik Europas, seine Reduktion auf ein „Project Fear“ und seine demokratischen Defizite werden überdeutlich durch die britische Debatte herausgeschält. Dann werden Dänemark, Finnland und die Niederlande die nächsten  Exit-Kandidaten und in Frankreich wird die europafeindliche Marine le Pen noch weiteren Zulauf gewinnen. Auf dem derzeitigen Zustand der teilweisen Lähmung droht eine komplette Lähmung zu werden.

Die wirtschaftsstärksten Länder verlassen nach und nach die Fähre der Geldumverteiler; dass die wirtschaftlichen Lasten bei ihnen als letzter halbwegs funktionierender Volkswirtschaft liegen sollen, kann als ausgemacht gelten. Das ist wirklich eine absurde Vorstellung.

Die Risiken des Brexit sind also ganz anders verteilt, als Cameron seinen Wählern wahrmachen will:

Sie liegen bei Deutschland, egal, wie sich die Briten entscheiden.

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