Grundgesetz – „Il y a des juges à Berlin!“

Egal ob Burka-Debatte oder Bundeswehreinsatz im Innern: Überall erstickt der Verweis auf das Grundgesetz jedwede politische Debatte im Keim. Das ist keine demokratische Standfestigkeit mehr - das ist besonders perfide Diskurvermeidung.

Snapshot Tagesschau/ARD
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Als Friedrich der Große, so besagt es jedenfalls die Legende, irgendwann Ende der 40-er Jahre des 18. Jahrhunderts durch den Garten seines Lieblingsschlosses Sanssouci spazierte, störte er sich an einer alten Mühle, die ganz in der Nähe stand. Der Alte Fritz lies daraufhin den Eigentümer, einen rechtschaffenen Müller, zu sich kommen, um ihm das unansehnliche Gebäude abzukaufen, in der Absicht es dann abzureißen. Doch der Müller verneinte eindrücklich – was den preußischen Monarchen aufbrausend werden ließ: „Weiß Er wohl, daß ich Ihm seine Mühle nehmen kann, ohne einen Groschen dafür zu geben?“, soll er ihm erbost zugerufen haben. Woraufhin der Müller kühn antwortete: „Oui, mais  il y a des juges à Berlin!“ („Ja, aber es gibt noch Richter in Berlin!“)

Eine Legende verschwindet aus dem Gedächtnis

Diese kleine Legende, die leider immer weiter aus dem kollektiven Gedächtnis verschwindet, steht symbolisch für das gewachsene deutsche Rechtsverständnis. Ja, sogar für einen Teil der nationalen Identität unseres Landes. Selbst in absolutistischen Tagen stand das Wort des Herrschers unter dem Vorbehalt des Rechts. Wenn der große Friedrich sich nach einer schöneren Parkanlage sehnte und eine einfache Mühle für dieses Vorhaben im Weg stand, so muss er sie dem alten Müller gesetzesgemäß abkaufen. Sollte er sich par ordre du mufti darüber hinwegsetzen, gibt es immer noch das Reichskammergericht in Berlin, das dies zu verhindern weiß: il y a des juges à Berlin!

Was der nichtsahnende Müller da so lakonisch von sich gab, steht legendenhaft für den Ursprung einer typisch deutschen Rechtstradition. Schon im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation mussten die Deutschen „die Erfahrung machen“, schrieb der Bundesverfassungsrichter Peter M. Huber vor einiger Zeit, „dass sich komplexe politische Herrschaft nur mit dem Mittel des Rechts einigermaßen bewältigen ließ und dass Gerichte – das Reichskammergericht (1495) etwa – wichtige Garanten der Interessendurchsetzung waren. So auch die zentralen Bestimmungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten von 1794, die auf die gerichtlich durchsetzbare Bindung und Mäßigung der monarchischen Exekutive setzten.“ Ebenfalls nicht unbekannt: Der Ausspruch Immanuel Kants, dass das Recht nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden müsse. Noch aus diesen Tagen stammt die deutsche Rechtstaatstradition, die das Recht als Bindung, nicht als Vollstrecker der politischen Entscheidungen verstand und nach 1949 fortgesetzt wurde. In Frankreich und Großbritannien stand und steht auch heute noch dieser Gedanke meist im Hintergrund, was das Rechtsstaatsprinzip neben dem Föderalismus zum wichtigsten freiheitlichen Erbe Deutschlands an die Welt werden lässt.

Doch auch wenn diese spezifisch deutsche Rechtsstaatstradition in Sachen Euro-Rettung und Flüchtlingskrise nur allzu leichtfertig über Bord geworfen wird („forget about the treaty!“), an anderer Stelle trägt sie bisweilen unangenehme Früchte: Als vor ein paar Tagen die Unionsminister erklärten, sie sprächen sich für ein Burka-Verbot aus, war die Aufregung groß. Selbst der Innenminister sagte, ein solcher Vorstoß sei vermutlich verfassungswidrig, weswegen er dagegen sei. Ebenso der Tenor in einigen großen Zeitungen. Selbiges ereignete sich bei der Frage nach einer Obergrenze für Flüchtlinge und einem möglichen Bundeswehreinsatz im Innern. Alles vermeintlich verfassungswidrig, alles nicht grundgesetzkonform, alles nicht diskussionswürdig. Überall in den Feuilletons und Leitartikeln hört man die ideologischen Erben des preußischen Müllers schreien: Mais il y a des juges à Berlin!

Grundrechte und Grundgesetz unterscheiden

Auch wenn das oberste deutsche Gericht nicht mehr in Berlin, sondern in Karlsruhe sitzt, der Gedanke bleibt derselbe. In einem Akt von übertriebenem Verfassungspatriotismus kämpfen manche Politiker und Journalisten für jede einzelne Norm des Grundgesetzes. Dabei geht es nicht mal um Grundrechte: Das Verbot des Einsatzes der Bundeswehr im Innern basiert auf Artikel 87 des Grundgesetzes und fällt damit nicht in den Schutzbereich der Ewigkeitsklausel. Die Regelung wäre also änderbar, wenn es so demokratisch gewollt wäre. Ebenso kann dem Recht aus Asyl ein Möglichkeitsvorbehalt beigefügt werden, wie es vor einiger Zeit der Historiker Heinrich August Winkler vorschlug. Demnach solle Asyl „nach Maßgabe der Möglichkeiten“ gewährt werden. Ein kluger Ansatz, der humanitäre Hilfsbereitschaft und Migrationsbegrenzung verbinden könnte. Warum er nicht weiter verfolgt wurde? Il y a des juges à Berlin!, schallte es ihm zurück.

Wenn in der öffentlichen Debatte der Einwurf vorgebracht wird, das Grundgesetz sage doch zur Sache derzeit etwas anderes, geht es gar nicht darum, einem möglichen Verfassungsbruch vorzubeugen. Sondern allein die Tatsache, dass die Verfassungsnorm derzeit anders lautet, dient als Argument den Diskurs über Änderungen im Keim zu ersticken. Konkret: Weil wir derzeit ein Individualrecht auf Asyl haben – das übrigens überhaupt nicht mehr den massenhaften Migrationsbewegungen unserer Tage entspricht – darf daraus kein Kollektivrecht gemacht werden. Nicht weil das verfassungswidrig wäre, sondern weil das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Form als heilig gilt. Diskussionen ausgeschlossen.

So kommentiert Patrick Bahners in der FAZ treffend: „Die Geschichtlichkeit der Normen blendet [der] ins Universalistische gewendete Verfassungspatriotismus aus, die akademische Version der quasireligiösen Überhöhung des Grundgesetzes, die im öffentlichen Reden mehr und mehr vordringt, aber der Grundregel der Demokratie widerspricht: dass Regeln durch Abstimmung geändert werden können.“ In den gegenwärtigen Debatten wird immer häufiger das Grundgesetz angeführt. Allerdings nicht als grober Beschränker von Politik, sondern als Richt- und Zielschnur, dem das Staatsvolk folgen müsse. Nicht nur, dass es dafür inhaltlich nicht taugt, weil es binden und nicht bestimmen will; auch die Demokratie selbst gerät dadurch in Gefahr. Bahners konstatiert, dass diese Fokussierung auf das Grundgesetz seine Wertungen vom Boden einer absoluten, idealen Verfassung aus vornehme, die, dieser Logik folgend, nicht mit Gründen verteidigt werden müsse. Wer so denkt, erklärt Bahners, schlussfolgert auch, dass Politiker und Journalisten Diskussionen mit Populisten vermeiden sollten – „ein autoritäres Politikverständnis kommt zum Vorschein.“ Was gemacht werden soll und darf, regelt dann nicht mehr das Parlament, sondern die Verfassung. Der demokratische Handlungsspielraum wird kleiner und kleiner.

Schleichend zum Richterstaat?

Klar ist, dass Minderheitenschutz und damit Grundrechte ebenso zur liberalen Demokratie gehören wie der Mehrheitsentscheid. Deswegen sollte ein Verfassungsbruch auch weiterhin als das bezeichnet werden, was er ist: ein illegitimer Eingriff in die Grundrechte. Doch innerhalb dieses menschenrechtlichen Rahmens obliegt der Rest der Entscheidungen dem demokratischen Diskurs. Dass das Liberale in der Demokratie auch nicht verloren geht, wenn man keine eifrige Politiker- und Journalistenmeute im Lande hat, die vor Grundgesetzfetischismus nur so strotzt, beweist das Beispiel Großbritannien. Im Mutterland der Demokratie gibt es seit jeher keine Verfassung. Die Menschen- und Bürgerrechte werden trotzdem gehegt und gepflegt und über alles weitere wird demokratisch-zivilisiert entschieden.

Was hingegen droht, wenn das Grundgesetz in seiner gegenwärtigen Form in allen Teilen als unabänderlich, unhinterfragbar und vor allem als politisch zielsetzend verklärt wird, ist die schleichende Verwandlung einer Republik in einen Richterstaat, wie ihn der umstrittene Staatsrechtler Carl Schmitt skizzierte. Wenn man auf die Verfassungsdebatten der letzten Dekaden blickt, ist bereits ein Hauch von Justizregierung, von gouvernement des juges verspürbar. So diktiert das Bundesverfassungsgericht bereits regelmäßig auf Euro und Cent genau, wo das Existenzminimum liege. Was wohl passiert, wenn Deutschland in eine riesige Depression geriete und der Staat das Existenzminium nicht mehr gewährleisten könnte? Würden die hohen Richter die Sozialpolitik der Bundesregierung in regelmäßigen Abständen für verfassungswidrig erklären und das Heft des Handelns selbst in die Hand nehmen? Noch gefährlicher wird es, wenn die bloße Kritik an der Macht des Bundesverfassungsgerichts bereits tabuisiert wird. Als der CDU-Fraktionschef Volker Kauder vor zwei Jahren die Richter vorsichtig bat, sie sollen doch bitte mehr Rücksicht auf die demokratischen Entscheidungen des gewählten Parlamentes nehmen, kam ihm ein Sturm der Entrüstung entgegen. Das Gericht in Karlsruhe, so die damalige Logik, dürfe zwar einschränken und einkassieren, wie es will, aber umgekehrt seien kritische Äußerungen strengstens untersagt. Dass das Verfassungsgericht auch eine der drei Instanzen unserer Demokratie verkörpert, die Macht ausüben und deswegen kritisiert werden müssen, kam den meisten nicht in den Sinn.

Damit in Deutschland wieder ernsthaft diskutiert werden kann – von Burka über Bundeswehr bis Asylobergrenze (egal wie man zu diesen Themen steht) – muss das Grundgesetz wieder als das gesehen werden, was es ist: Ein konstitutioneller Rahmen für den demokratischen Souverän, nicht dessen Herr und Gebieter in allen gewöhnlichen politischen Fragen. Il y a des juges à Berlin! – Dieses Rechtsdogma bleibt richtig und wichtig. Nur wir sollten nicht vergessen: il y a aussi des politiciens!

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