Wohin wollen islamische Reformer – und wie erfolgreich können sie sein?

Der türkisch-stämmigen Mathematiker und Physiker Ufuk Özbe formulierte seine Auffassung zur Unreformierbarbeit des Islam – der islamischen Theologe der Universität Münster, Mouhanad Khorchide entgegnete. Dieser Debatte geht Tomas Spahn nach.

© Christopher Furlong/Getty Images

Die Online-Ausgabe des Cicero hatte im April 2016 eine überaus spannende Positionierung des in Deutschland geborenen, türkisch-stämmigen Mathematikers und Physikers Ufuk Özbe zur Unreformierbarbeit des Islam veröffentlicht – und zwei Tage darauf eine Replik des islamischen Theologen der Universität Münster, Mouhanad Khorchide, folgen lassen. Diese Rede und Gegenrede zweier Deutscher mit Wurzeln im islamischen Kulturkreis ist aus vielerlei Gründen spannend. Denn sie dokumentiert einerseits, dass jene in manchen Kreisen verbreitete, pauschale Vorstellung, „Orientalen“ könnten niemals in Deutschland und in der modernen Wissensgesellschaft ankommen, mehr als unsinnig ist. Gleichzeitig aber ist sie auch ein Dokument dafür, wie Menschen aneinander vorbeireden können, wenn sie sich auf verschiedenen philosophischen Inseln bewegen.

„Der Islam ist nicht reformierbar“

Özbe vertritt in seiner Veröffentlichung im Kern ähnliche Positionen zum Islam wie ich sie jüngst bei TE unter dem Titel „Ein Faktencheck zum Faktencheck“ als Klarstellung zu einem von der SPD veröffentlichten Positionspapier zum Islam publiziert hatte. In der Quintessenz besagen diese Positionen, dass der Islam in seiner absoluten Fixierung auf das geschriebene Wort des Koran nicht „reformierbar“ ist. Wobei „reformierbar“ im eigentlich Sinne der falsche Begriff ist, besagt Reform doch, etwas in seine ursprüngliche, zwischenzeitlich verlorene Form zurück zu bringen – weshalb die eigentlichen „Reformer“ des Islam jene salafistischen Wahabiten sind, die unter der geistigen und materiellen Führung der arabischen Sa’ud einen Islam in mohammedanischer Ursprünglichkeit reanimieren wollen.

Khorchide, der sich selbst als liberaler Reformer des Islam versteht, ist insofern alles andere als dieses. Denn es ist nicht sein Ziel, den Islam des Mohammed zu reanimieren, sondern aus diesem koranischen Islam etwas neues, noch nie Dagewesenes zu schaffen, das in den Köpfen vieler nicht nur deutscher Politiker als „Euro-Islam“ herumgeistert.

Gilt die Quelle – oder gilt sie nicht?

Özbe geht in seinem wissenschaftlichen, untheologischen Ansatz einen ähnlichen Weg, wie ich ihn seinerzeit beim Biblikon-Projekt in der politikwissenschaftlich-historischen Auseinandersetzung mit den Wurzeln und Hintergründen des jüdisch-christlichen Tanach/Alten Testaments gegangen bin. Nach wie vor vertrete ich die Auffassung, dass diese Herangehensweise für einen Nicht-Theologen die einzig zulässige ist. Sie besagt: Zuerst muss ich wissen, was das geschriebene Wort der historischen Quelle, mit der ich mich beschäftige, besagt. Dabei aber kommt es auf das tatsächliche Wort an – nicht auf eine Interpretation dessen, was vielleicht mit dem Wort gemeint sein könnte.

Diese Herangehensweise ist beim Islam und seinen Quellen wie dem Koran und den Hadithe deutlich einfacher zu bewerkstelligen als beim Tanach. Denn letzterer wurde im Schwerpunkt im sechsten vorchristlichen Jahrhundert verfasst, während die islamischen Quellen frühestens auf das siebte Jahrhundert nach Christus zu datieren sind. Die Folge liegt auf der Hand: Bei einer vokallosen Schriftsprache, wie sie sowohl das Hebräische und das Aramäische der Bibel wie auch das Arabische zur Zeit des Mohammed gewesen sind, können geschriebene Wörter allein schon deshalb sehr unterschiedliche Inhalte transportieren.

Mehr noch als beim Koran kommt beim Tanach erschwerend hinzu, dass im Verlaufe von 2.600 Jahren nicht nur Begriffe ihren Sinngehalt wandeln, sondern als Wort ihres Inhalts völlig verlustig gehen können. Im Alten Testament behalfen sich spätere Übersetzer wie selbst mosaisch-masoretische Interpreten in solchen Fällen damit, das Wort als Transliteration zum Eigenbegriff zu machen – und änderten damit möglicherweise ungewollt den Inhalt dessen, was sie als Heiliges Buch eigentlich für unveränderlich hielten.

Der Koran als Gotteswort

Dieses stellt sich im Koran als vorgeblichem Gotteswort anders dar. Zwar ist auch dieses nunmehr rund 1.400 Jahre alte Werk in einem alt-arabischen Sprachduktus verfasst, der manchem heute lebenden Muslim derart fremd ist, dass er allein schon deshalb davon ausgeht, es hier mit reinem Gotteswort zu tun zu haben, doch ist nicht zuletzt deshalb, weil der Koran durch seine ständige Rezitation und Weitergabe gleichzeitig eine Art Duden der arabischen Sprache ist, das geschriebene Wort dieses Textwerkes deutlich einfacher zu verstehen als jenes Alt-Hebräisch des Tanach.

Konkret bedeutet dieses: Während der Tanach in der scheinbaren Unerklärlichkeit und der nachvollziehbaren Fehlübersetzung in gewissem Rahmen fehlinterpretierbar wird, lässt der Koran ob seiner sprachlichen Nähe zur Gegenwart dafür deutlich weniger Raum.

Die Verbalinspiration des Koran

Das koranische Wort gilt als Verbalinspiration. Das besagt: Der Gott dieses Buches hat sein göttliches Wort in diesem konkreten Falle nicht unmittelbar, sondern über einen Engel (im Altsemitischen eingach nur „Bote“) dem Menschen Mohammed quasi ins Gehirn diktiert. Dieser hat es dann verbal über seine Verkündigungen weitergegeben, sodass es zu einem späteren Zeitpunkt von unbekannten Anhängern aufgeschrieben und als göttliches Wort der Nachwelt weitergereicht werden konnte.

Auch dadurch unterscheidet sich der Koran maßgeblich vom jüdischen Tanach und den christlichen Evangelien: Beide Werke sind von Menschen verfasste Schilderungen (pseudo)geschichtlicher Abläufe, in denen immer konkret benannt wird, wer wann zu wem was gesagt hat. Wenn der jüdische Gott Jahwe etwas sagt, wird dieses als Gotteswort ausgewiesen. Wenn der Prophet im Dialog mit seinem Gott dieses tut, ebenso. Und wenn Gott über einen Propheten den Menschen eine Mitteilung machen lässt – wie im Falle der vorgeblichen Prophetin Hulda, die tatsächlich eine Hohepriesterin des Asherah-Kultes war – wird dieses ebenso konkret benannt. Tanach und Neues Testament sind nicht Gotteswort – sie sind Menschenwort, in das göttliche Befehle und Positionen als solche gekennzeichnet einfließen. Allein das schon unterscheidet die beiden älteren abrahamitischen Religionen derart deutlich vom Islam, dass die häufig unterstellte Nähe der beiden Älteren zum jüngsten Sproß faktisch nur darin zu finden ist, dass Mohammed die Bücher der von ihm bekämpften Glaubensphilosophien gut genug kannte um darauf seinen Gegenentwurf zu entwickeln und diesen als absolutes Gotteswort auszugeben.

Das übrigens macht die biblischen Werke letztlich unangreifbarer als den Koran. Denn in all diesen Büchern finden sich Widersprüche, teils sogar sich gegenseitig widersprechende Verhaltensaufträge. Für Tanach und Evangelien stellt das im Kern kein Problem dar – Menschen machen Fehler und sie können diese auf bei der Niederschrift gemacht haben. Der Islam hilft sich in soclhen Fällen mit dem sogenannten Abrogationsprinzip. Dieses besagt: Gültigkeit hat nur die Norm und Aussage, die die jüngste ist. Das klingt plausibel bei einem Werk, das ein Mensch über mehrere Jahre verfasst hat, sind wir als Menschen doch lernfähig und können selbst eigene Irrtümer erkennen.

Hinsichtlich des islamischen Gottes allerdings stellt das ein Problem dar, dass bei sachgerechter Betrachtung jeden Muslim an seinem „Glauben“ irremachen müsste. Denn wenn –wie behauptet – jede im Koran geschriebene Zeile verbalinspiriertes Gotteswort ist, dann werden die Phrasen von der Allmacht und der Allwissenheit dieses Gottes zur Persiflage. Denn dann hat Allah innerhalb weniger Jahrzehnte ständig und immer wieder geirrt und sah sich genötigt, sich selbst zu korrigieren. Sehr göttlich ist eine derartige Irrtumskette nicht. Doch das nur am Rande.

Khorchide und das Siegel der Propheten

Khorchide, der solche auf dem Abrogationsprinzip basierenden Bedenken konsequent ausklammert, fasst in seiner Replik auf Özbe die aus der Verbalinspiration resultierende Problematik des Islam korrekt zusammen (in Klammern die Suren): „Der Koran erklärt, dass kein Muslim ein Recht auf eigenes Ermessen habe, wo Gottes Entscheidung gefallen sei (33:36). Das Urteil über alle Uneinigkeiten stehe allein Gott zu (42:10). Gott ordne an, was er wolle (5:1). Wahre Gläubige würden lediglich „wir hören und wir gehorchen“ rufen (24:51).“

Tatsächlich sind die von Khorchide benannten Textstellen nicht interpretierbar.

Nicht interpretierbar ist auch die Passage, in der Mohammed in Sure 33:40 als „Siegel der Propheten“ zum auf alle Ewigkeit letztmaligen Verkünder einer göttlichen Botschaft erklärt wird. Mit anderen Worten: Mit dieser Passage des Koran wurde Gott aus der menschlichen Geschichte abgemeldet. Mohammed war der letzte, der die Ehre hatte, den Menschen göttliche Mitteilungen zu machen. Nach menschlichem Verständnis wäre der Koran daher als das Testament eines sterbenden oder zumindest sich für alle Ewigkeit verabschiedenden Herren  zu verstehen, der für sein  Volk den Menschen Mohammed als seinen Testamentsvollstrecker eingesetzt hat.

Vielleicht weiß Khorchide, weshalb er um diese Sure einen Bogen macht. Denn ihr Wortlaut ist ebenso unmissverständlich wie derjenige der von ihm zitierten:  „Muhammad ist nicht der Vater irgend jemandes von euren Männern, sondern Allahs Gesandter und das Siegel der Propheten. Und Allah weiß über alles Bescheid.“ (in der Übersetzung von Abdullah a‘Samit Frank Bubenheim und Nadeem Elyas)

Nicht nur das „Siegel des Propheten“, sondern auch der Nachtrag besagen: Dieser Text ist nicht interpretierbar und jeder Versuch, dieses zu tun, wird von Allah sofort bemerkt und als Häresie verbucht. Und der Text besagt noch mehr. Denn wenn „Allah über alles Bescheid“ weiß, dann ist er – was andernorts im Koran beharrlich auch wortgetreu festgestellt wird – allwissend. Wer wiederum allwissend ist, der ist auch unfehlbar, denn er muss um jeden Fehler, der ihm möglicherweise unterlaufen könnte, wissen. Damit nun wird der Ansatz Özbes, den Khorchide als unzulässig qualifiziert, abschließend unumgänglich. Nur das Wort des Koran kann als Wort Allahs Grundlage des einen Islam sein – und jeglicher Versuch, daraus Interpretationen herzuleiten, wäre letztlich Häresie.

Interpretation oder Literalismus?

Es ist nachvollziehbar, dass Khorchide sich dieser Erkenntnis verschließen muss. Denn sie macht ihn selbst zum Häretiker am Islam – was ihm seine Gegner in den fundamentalistischen Islamverbänden zum Vorwurf machen. Es ist daher auch nachvollziehbar, dass Khorchide Islamkritiker und Islam-Fundamentalisten in einen Topf wirft, wenn er ihnen vorhält, den Koran „lediglich literalistisch, also wortwörtlich“ zu lesen. Dabei ist es genau diese Herangehensweise, die der Koran selbst von seinen Anhängern erwartet – und die eigentlichen  Anhänger des Mohammed unter den Muslimen sind so die Fundamentalisten ebenso wie in der Analytik jene den korrekten Weg gehen, die das Wort des Koran wörtlich nehmen – denn was sollten sie sonst tun bei einer Schrift, die genau dieses einfordert und jegliche Interpretation des göttlichen Wortes als gegen dieses gerichtet behauptet?

Kein allwissender Gott im Koran

Dabei spielt es auch keine Rolle, dass der Gott des Koran entgegen der koranischen Behauptung eben genau das nicht ist: Allwissend und unfehlbar. Wer die historisierenden Teile des Koran mit den entsprechenden Passagen der Vorgängerwerke vergleicht, dem bleibt die Erkenntnis nicht verborgen, dass Mohammed diese vorgeblich geschichtlichen Passagen häufig absolut auf den Kopf stellt. So wird – um nur ein Beispiel zu nennen – bereits die Erbfolge zwischen Isaak und Ismael kurzerhand umgekehrt und aus dem Sklavinnensohn, der in die Wüste geschickt wird, der eigentliche Erbnachfolger des Abraham/Ibrahim. Das politische Ziel dieser Neuinterpretation liegt auf der Hand – doch gleichzeitig dokumentiert Mohammed damit auch genau jene Unvollkommenheit seines Gottes, die vorgeblich ausgeschlossen ist.

Allein die Behauptung, Juden und Christen hätten Gottes Willen (nicht nur in dieser Erbfolgefrage) falsch interpretiert, reicht nicht aus, wenn gleichzeitig in Sure 2:136 die Korrektheit der Inhalte der Bücher von Juden und Christen festgestellt wird: „Sagt: Wir glauben an Allah und an das, was zu uns herabgesandt worden ist, und an das, was zu Ibrahim, Isma’il, lshaq, Ya`qub und den Stämmen herabgesandt wurde, und was Musa und ‚Isa gegeben wurde, und was den Propheten von ihrem Herrn gegeben wurde. Wir machen keinen Unterschied bei jemandem von ihnen, und wir sind Ihm ergeben.“

Beides – die Darstellung im AT und die Darstellung im Koran – kann dann nicht göttliche Wahrheit sein, wenn sie einander widersprechen – und führen so die Sure 2:136 ad absurdum.

Denn der Gott des Mohammed muss demnach in seinen früheren Aktionen und von ihm zugelassenen Texten Fehler und Irrtümer eingebaut haben – womit wir wieder bei der Problematik des Abrogationsprinzips sind und der daraus unvermeidbar resultierenden Fehlbarkeit und Nicht-Allwissenheit des Allahs. Denn genau solche Irrtümer können einen „wahren Gott“ nicht unterlaufen – und es stellt sich über die dem Koran inhärenten Widersprüche hinaus die Frage,  weshalb der allmächtige und allwissende Gott seine muslimischen Schäflein, die Juden und Christen im koranischen Verständnis sind,  rund 1.200 Jahre in die Irre hat laufen lassen, um dann plötzlich festzustellen, dass er eines Arabers namens Mohammed bedarf, um seine zahlreichen Fehler zu korrigieren.

Der Theologe, der an Gottes Wahrheit zweifelt

Doch wenden wir uns erneut Khorchide zu. Der Theologe vertritt nun die Auffassung, der Koran dürfe eben nicht „literalistisch“ gelesen werden. Er begründet dieses unter anderem damit, dass der Koran eben nichts von Autos und Flugzeugen habe wissen können, weshalb Muslime heute dennoch diese Verkehrsmittel nutzen dürften.

Damit aber stellt sich der Theologe selbst eine Falle auf, aus der es kaum ein Entrinnen geben kann. Es ist eine Falle, die Mohammed in seiner Hybris selbst vorbereitet hatte, als er Sure 33:40 verkünden ließ. Wenn Allah über alles Bescheid weiß und Mohammed der letzte Verkünder göttlichen Wortes ist, wie der Koran ultimativ befindet, dann wusste Allah um 600 nc auch, dass es in 1.400 Jahren Autos und Flugzeuge geben wird. Also hätte er, um in seiner Allmacht eben genau diese hier und heute an dieser Stelle stattfindende Debatte  zu verhindern, zumindest darauf hinweisen müssen, dass mit Kamel und Esel nicht das Ende der Fortbewegung manifestiert ist.

Das aber – und da bewegt sich Mohammed genau wie seine mosaischen Vorgänger zwangsläufig in der Unvermeidbarkeit seiner Zeit – ist dem Machtmenschen Mohammed nicht vorstellbar gewesen. Wie andere Glaubensverkünder auch lebt Mohammed in der Hybris seiner unmittelbaren Machtperspektive, die er zwar scheinreligiös verklausuliert präsentiert, um dem ungebildeten Volk etwas Übersinnliches vorzugaukeln – doch in seiner Überheblichkeit, die den Erzähler vergleichbar dem deutschen Schriftsteller Karl May immer mehr selbst zur Person des vorgeblich Verkündenden werden lässt (was im Islam mit dem gleichrangigen Bekenntnis zum Gott Allah und dem Menschen Mohammed auf oberster Glaubensebene dokumentiert wird), reicht auch Mohammeds visionäre Vorstellungswelt in der Lebenswirklichkeit eben nicht weiter als Mohammeds reale Welt. Die Allwissenheit Allahs endet zwangsläufig dort, wo das Wissen des machtpolitischen Visionärs Mohammed endet.

Die Konstruktion eines kommunikativen Koran

Um dieses zumindest instinktiv wissend, konstruiert Khorchide nun in seiner Replik auf Özbe das Modell eines „kommunikativen Koran“. Der Koran sei nicht als „ein fertiges Korpus monologisch vom Himmel gefallen“, sondern „dialogisch als Kommunikation“ verkündet worden.

Nun bedarf Kommunikation allerdings immer mindestens zweier Personen – und sie definiert sich aus Rede und Gegenrede und tatsächlich nicht monologisch in diktatorischem Befehl und Gehorsam.

Möglich und im Sinne auch des islamischen Selbstverständnisses zutreffend ist, dass Allah nicht einmalig einen monolithischen Textblock dem Mohammed – so wir ihn als Propheten verstehen wollen – in das Gehirn setzte. Dennoch führt kein Weg an der Feststellung vorbei, dass anders als im Tanach keine Kommunikation zwischen dem Gott und den irdischen Empfängern seiner Botschaft erfolgt ist. Mohammed selbst räumt dieses ein, denn sein Gesprächspartner ist nicht sein Gott selbst, sondern ein Engel. Dieser wiederum verfügt nicht über die Berechtigung zur eigenen Gotteswortgestaltung, sondern ist lediglich überbringendes Organ.

Hätte Mohammed Fragen zu dem ihm vom Engel Verkündeten gehabt, so hätte der Engel diese seinem Auftraggeber übermitteln und die Antworten einholen müssen. Oder aber der Engel selbst wäre im Sinne eines Hologramms eine Erscheinungsform Gottes gewesen und hätte im Rahmen der Möglichkeiten dieser modernen Kommunikationsform unmittelbar auf Fragen des Menschen reagieren können. Doch Mohammed fragt nicht – anders als viele seiner biblischen Vorgänger ist und bleibt er lediglich Empfangsinstrument.

Die Kommunikation zwischen Volk und – wem?

Selbst Khorchide erklärt, dass die von ihm propagierte kommunikative Ebene des Koran ausschließlich zwischen (potentieller) Anhänger- oder Gegnerschaft und eben Mohammed als Propheten selbst stattfindet. Das Volk fragt – Mohammed antwortet und gibt dabei nach islamischem Verständnis wortgetreu das wieder, was Gott Allah den Menschen zu der jeweiligen Thematik zu sagen hat.

So steht nun die Frage im Raum, wie im Moment der Frage die Vermittlung zwischen göttlicher Antwort und Prophet erfolgt sein kann. Denn die Gegenwart eines übermittelnden Engels ist in solchen Situation nicht dokumentiert – und sie kann es auch nicht sein, denn dann würden im islamischen Prophetenverständnis die Anwesenden sämtlichst selbst zu Propheten und Mohammed als Prophet überflüssig.

Das aber kann nur bedeuten: Mohammed muss bereits vor der von Khorchide angenommenen Fragestellung durch das Volk die göttliche Antwort in sich gehabt haben. Das nun würde nach koranischem Selbstverständnis bedeuten müssen, dass Mohammed gleichsam ein bis oben mit göttlichem Wissen gefülltes Gefäß gewesen ist – wie hätte er die Fragen andernfalls als göttlichen Willen beantworten können? Wenn dem nun aber so wäre –warum hat dann Mohammed den Menschen nicht ungefragt all diese göttlichen Botschaften vermittelt? Warum bedurfte es der Frage eines spätantiken Volkes, dem notgedrungen keine Antworten gegeben werden konnten, die ein Volk der Moderne benötigt? Warum ließ Gott es zu, dass Menschen wie Khorchide 1.400 Jahre später vor die Menschen treten müssen, um diesen zu erklären, dass die damals als unabänderliche, göttliche Botschaft gegebenen Antworten heute anders zu versehen sind als damals? Warum konnte Allah seine Antworten nicht schon damals so geben, dass sie auch für spätere Generationen uneingeschränkte Gültigkeit haben – oder haben sie, weil Allah eben vollkommen sein muss, diese Gültigkeit und haben damit nicht die Islamfundamentalisten recht und Khorchide unrecht?

Wenn Khorchides These zutrifft, bleibt darüber hinaus die Frage: Was an göttlicher Botschaft ist dem Menschen mit dem Tode Mohammeds vorenthalten worden – und warum?

Der Muslim wird zum Mohammedaner

So oder so  aber – das muss sich Khorchide sagen lassen – bleibt die vorgebliche Kommunikation des Koran weiterhin monologisch. Denn sie gestattet eben keine Nachfrage bei Gott durch den Gesandten  – wie dieses im Tanach der Fall ist. Sie gestattet lediglich dem Botschaftsempfänger der zweiten Ebene  die Bitte um Erläuterung durch den Gesandten Gottes als Empfänger der ersten Ebene.

Der Muslim selbst ist damit auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen, diesem Gesandten genau diese Gesandtenfunktion ohne jedes Wenn und Aber abzunehmen. Denn nur und ausschließlich unter dieser Prämisse kann das Wort Mohammeds das Wort Allahs sein – und dieses erklärt, warum im Koran die Bedeutung des Menschen Mohammed in der Quintessenz über die Bedeutung eines fernen Allah, der sich weigert selbst zu den Menschen zu sprechen, hinauswächst.

Der eigentliche Kern des Islam ist nicht der Glaube an einen Gott Allah – es ist zwangsläufig die Überzeugung davon, dass der Mensch Mohammed der einzig legitime und gleichzeitig abschließende Verkünder des göttlichen Wortes ist. Deshalb auch wird der Muslim in seinem „Glaubensbekenntnis“ vom Glaubenden zum „Bezeugenden“. Ohne diese Bezeugung durch den Muslim wäre Mohammed zurückgeschrumpft auf die Funktion eines regionalen Sektierers ohne Nach- und Nebenwirkungen.

Der Muslim muss an dieser Funktionsbeschreibung Mohammeds unverrückbar festhalten, weil er andernfalls den Gotteswortcharakter des koranischen Werkes bezweifeln müsste und damit an der ihm vorgegebenen Welterklärung, die dieses absolut voraussetzt, nicht mehr festhalten könnte. Tatsächlich wird der Muslim so zum Mohammedaner als uneingeschränkt dem Gesandten und nicht mehr dem Gott selbst Unterworfenen – und genau so beschreibt der Koran die Funktion des „wahren Gläubigen“ als denjenigen, der sein Leben und seinen Besitz dem Propheten – und nicht Allah – gibt.

Khorchide strebt einen Islam mit christlichem Antlitz an

Damit sind wir wieder bei Özbe und einer sachlich-wissenschaftlichen Analytik des Islam. Aus der nicht-theologischen Sicht auf den Islam, die wir in der Tradition der Aufklärung als wissenschaftlich bezeichnen sollten, ist der Koran nicht interpretierbar und damit der Islam nicht im Sinne einer Überwindung seiner selbst „reformierbar“.

So sehr Khorchides Bemühungen, einen „liberalen Islam“ zu kreieren, anzuerkennen sind, so sehr bleibt dennoch die Erkenntnis, dass „liberaler Islam“ ein Oxymoron ist. Denn ein „liberaler Islam“ müsste nicht nur radikal mit islamischen Traditionen brechen (was immerhin noch vorstellbar wäre) – er müsste auch den Gotteswortcharakter des Koran  und damit die Funktion des Mohammed überwinden. Will Khorchide erfolgreich sein, so bliebe ihm nichts anderes übrig, als das im Koran definierte Selbstverständnis dieses Schriftwerks im Sinne der mosaischen und christlichen Buch- und damit Gotteswortinterpretation radikal und fundamental zu verändern – und damit die einzigartige Funktion des Mohammed selbst auszuhebeln. Khorchides Islam wäre kein Islam der Mohammedaner, sondern etwas anderes.

Was Khorchide anstrebt  ließe sich am ehesten mit „christlicher Islam ohne Messias“ beschreiben. Das erklärt zum einen, weshalb er sich in der trotz allem Säkularismus von christlichem Denken geprägten Bundesrepublik der Unterstützung und Förderung durch die nicht-muslimische Politik erfreut, zum anderen, warum die traditionalistischen Islamverbände ihn vehement bekämpfen.

Dabei wäre ihm vielleicht am ehesten zu raten, sich der Tatsache zu stellen, dass der Islam in seinem koranischen Selbstverständnis eben nicht „reformierbar“ im Sinne einer aufklärerischen Weiterentwicklung ist, sondern jede solche Weiterentwicklung etwas anderes schaffen würde, das mit dem Islam des Mohammed jedoch nichts mehr zu tun hätte. Konsequent wäre es, sich aus dieser Erkenntnis heraus – wenn man denn schon eines religiösen Wertegerüstes bedarf – zu dem Bekenntnis durchzuringen, mit dem Islam einer unreformierbaren Philosophie gefolgt zu sein – und sich eigentlich längst schon zu einer Glaubensgemeinschaft bekannt zu haben, die den Schritt der Reform auf Grundlage eines tatsächlich kommunikativen Basiswerks gehen konnte und gegangen ist. Statt eines Islam mit christlichem Antlitz, den es nach islamischem Verständnis nicht geben kann, müsste die Logik dann unmittelbar zum Christentum führen. Vorausgesetzt selbstverständlich, dass man außerstande ist, ein Leben ohne Gottesdiktat nach moralischen und ethischen Maßstäben selbständig zu führen.

Und deshalb, um dieses abschließend festzustellen, ist  Khorchides unverhohlener Versuch, die wissenschaftliche Islamkritik als „Wasser auf die Mühlen solcher Parteien wie NPD und AfD“ zu diffamieren, nicht nur der Debatte mehr als abträglich, sondern sie offenbart letztlich auch die Verzweiflung des Theologen, sich des Unmöglichen seines Zieles zunehmend mehr bewusst zu werden. Denn wenn er tatsächlich einen offenen Dialog auch zwischen Theologen und Nicht-Theologen sucht, dann bedarf es keiner Abqualifizierung des Nicht-Theologen durch den Theologen.

Wenn tatsächlich eine inhaltliche Nähe zwischen Analytiker und politischem Akteur festzustellen sein sollte, dann darf dieses in einer aufgeklärten Gesellschaft dennoch nicht bedeuten, auf die Analytik aus politischen Erwägungen zu verzichten. Hier – auch dieses muss leider festgestellt werden – offenbart sich der islamisch-totalitäre Charakter des Denkens eines sich selbst als liberalen Reformer betrachtenden islamischen Theologen. Und es offenbart sich gleichzeitig die Schwierigkeit, zwischen Aufklärer und Theologen eine gemeinsame Basis der Diskussion zu finden, weil die philosophischen Inseln, auf denen sie sich befinden, durch ein Meer irrationaler Tiefe getrennt sind.

Unsere Tages-Serie „Wie leben mit dem Islam“

Sie finden dazu heute hier einen Beitrag von Andreas Backhaus zum friedlichen Zusammenleben in Ghana 

und von Abtprimas Notker Wolf: “ Der Islam gehört nicht zu Deutschland?“ 

Weitere kritische Beiträge zum Thema Islam finden Sie in unserem Dossier Islam. 

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