Merkel: Keine gute Rede – und schlechte Politik

Kann eine gute Rede schlechte Politik ersetzen? Der Lob für Merkels Rede auf dem Parteitag ist kurzsichtig und unkritisch - Politik zählt.

Es sei die beste Rede gewesen, die Angela Merkel jemals gehalten hat. So hat es wohl die Presseabteilung des Konrad-Adenauer-Hauses am Ende der Parteitagsrede Merkels den Journalisten ins Notizbuch diktiert. Genauso war es dann am nächsten Tag in den meisten Tageszeitungen zu lesen. 73 Minuten und 6 Sekunden dauert sie. Anschließend applaudierte der Parteitag 9 Minuten lang. Auch das wurde dokumentiert und analysiert. Es war weniger Applaus als 2014, aber mehr als 2013. „Gott sei Dank“ werden die Parteitagsstrategen wohl gedacht haben. Doch im Lichte betrachtet, muss man sagen, es war eher ein Rechenschaftsbericht als eine Rede: Was sie über das Jahr gemacht hat, welche Kollegen sie getroffen hat und so.

Sing-Sang der Verantwortungslosigkeit

Doch es wurde klar, was Merkel antreibt. Eine Vision oder ein Kompass ist es sicherlich nicht. Denn wenn sie davon spricht, es seien die europäischen Werte auf dem Prüfstand gestanden und es sei ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, den an der ungarischen Grenze festsitzenden Flüchtlingen zu helfen, dann bleibt das im weichen Singsang. Sie versucht, sich ihrer Verantwortung als Kanzlerin und als Regierungschefin zu entziehen. Der „humanitäre Imperativ“ ist nicht das, was sie unterstellt. Nicht Frau Merkel ist an die ungarische Grenze gefahren und hat den Flüchtlingen eine warme Suppe oder frische Kleidung gebracht, genau das wäre ein „humanitärer Imperativ“ gewesen, sondern sie hat stattdessen europäisches Recht ausgesetzt. Vielleicht hätte sie sich an Wilhelm von Humboldt orientieren sollen, der die Erzwingung der Gesetze als einzige legitime Funktion des Staates sah. Das bedeutet im Falle der Flüchtlinge an der ungarischen Grenze eben nicht, dass Angela Merkel das Recht hat, das Dubliner Abkommen einfach auszusetzen, sondern sie hätte darauf drängen müssen, dass es durchgesetzt wird. Das entbindet die deutsche Regierung jedoch nicht, Hilfe zu leisten. Es wäre schon Monate vor dem 4. September möglich gewesen, den überforderten Ländern an der Außengrenze der EU organisatorische, finanzielle und humanitäre Hilfe anzubieten. Stattdessen schleift Merkel europäisches Recht und sorgt dafür, dass der Schengenraum implodiert. In ihrer Rede hat sie zwar den Schengenraum als große Errungenschaft in Europa herausgestellt, was dieser zweifelsohne auch ist. Jedoch ist es ihr individuelles Handeln, das ihn zum Einstürzen bringt.

Keine gute Rede, aber vor allem: Keine gute Politik

Jetzt wird gekittet und geflickt. Sichere Herkunftsstaaten werden neu definiert, Sach- statt Geldleistungen ausgereicht, sechsmonatige Verwahrung in den Aufnahmeeinrichtungen angeordnet, 4.000 neue Stellen in der Bürokratie geschaffen, der Türkei Milliarden versprochen und den Bundesländern und Kommunen einen Teil der Kosten ersetzt. Das Institut für Weltwirtschaft in Kiel rechnet bis Ende 2017 mit Mehrausgaben für den Staat von 135 Milliarden Euro. Schon pfeifen es die Spatzen von den Dächern, dass Steuererhöhungen vorbereitet werden. Vielleicht erst nach den Landtagswahlen im Frühjahr. Vielleicht nur die Mineralölsteuer. Gut, dass der Dieselkraftstoff aktuell so billig ist. Am verlässlichsten und ergiebigsten für den Finanzminister ist zweifelsohne die Mehrwertsteuer. Nein, nein, der „humanitäre Imperativ“ muss uns etwas Wert sein. Nein, Frau Merkel hat nicht nur keine gute Rede auf dem Parteitag gehalten, sie hat vor allem keine gute Politik gemacht.

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