WELT AM SONNTAG Nr. 4: Was MACHT so mit uns macht

Gewissheiten lösen sich auf, das staatliche Gewaltmonopol wackelt. Für unsere Machthaber ist die Herausforderung der neuen, aber historisch "normalen" Unordnung schlicht zu groß. Offen gelegt durch die historische Dimension der Migrationskrise erweisen sich alle Kaiser als nackt.

Besser kann man es kaum fassen als Vize-Chefredakteur Beat Balzli: „Gewissheiten lösen sich auf, das staatliche Gewaltmonopol ist weniger gefestigt als in der Vergangenheit. Mancherorts scheint die Herausforderung dafür einfach schlicht zu groß, ausgelöst durch die historische Dimension der Flüchtlingskrise. Der Ruf nach Schließung der Grenzen wird auch hierzulande immer lauter. Die einsame Kanzlerin Angela Merkel hält noch stoisch dagegen – um sie wohl am Ende in mehreren Schritten irgendwie doch zu schließen. Nur wird sie es anders nennen.“

Der Teaser beim Thema „Was die MACHT mit Frauen macht“ sagt uns, was weiter hinten belegt wird: „Das Bild von der empathischen Kuschel-Chefin ist ein Mythos. Je mehr Frauen in einer Führungsetage sitzen, umso männlicher verhalten sie sich. Hart statt herzlich – und das ist gut so, sagen Experten.“

Das passt auch zum Generalthema der Gegenwart: Migration, das mit „Merkel verschanzt sich im Kanzleramt“ auf der Frontseite beginnt und auf vier Seiten fortgesetzt wird. „Zipperts Wort zum Sonntag“ handelt gar nicht von Merkel, sein Titel wird trotzdem bei manchen mit ihr assoziieren: „Bloß kein Mitleid mit Mutti“. Mitleid mit der Kanzlerin ist jedenfalls keine Kategorie, mit der Angela Merkel rechnen sollte. Auf Seite 2 heißt Teil 1 des Generalthemas „Einsame SPITZE“ und die Quintessenz lautet: „Nachdem sich die CSU in die Kanzlerin regelrecht verbissen hat, wenden sich nun auch die SPD und die eigenen Leute ab. Und Europa hilft nicht, sondern genießt die Schwäche der einst Übermächtigen“.

An der Spitze keine Spitze

Zum Verschanzen auf der Schanze Kanzleramt kommentiert Stefan Aust im FORUM auf Seite 9: „Man hört nicht auf seine Sicherheitsbehörden, lehnt Einsatzpläne der Bundespolizei ab und wünscht sich eine umgehende Integration der eingereisten Million. Dass etwa die Hälfte aller bei der Behörde für Migration und Flüchtlinge Registrierten keinen Anspruch auf ein Bleiberecht hat, wird unterschlagen. Irgendwie werden sie sich in Luft auflösen. Oder man pocht auf die zunehmende Zahl der Abschiebungen – die genauer betrachtet im Monat geringer sein dürfte als neue Flüchtlinge am Tag dazukommen. Es ist eine wunderliche Art virtueller Politik, die zu beobachten ist. Doch die Realität lässt sich auf Dauer nicht ausblenden. Auch nicht hinter den Betonmauern des Kanzleramts.“

Auf Seite 3 – „Noch liegt ‚Plan B‘ in der Schublade“ – erfahren wir, dass es nichts gibt, was diesen Titel verdient. In „Willkommen in der OSTEUROPÄISCHEN Union“ wird uns Viktor Orbán als Gegenkaiser der EU vorgestellt: In den Ohren des Historikers klingelt Westrom versus Ostrom oder auch die Zeiten des Heiligen Römischen Reiches mit Kaisern und Gegenkaisern.

Kein Plan B – Plan A gab’s nie

Auch wenn auf Seite 1 nicht als Teil des Generalthemas ausgewiesen gehört auf Seite 5 „Integrationsfaktor SCHWARZARBEIT“ doch dazu: „Die Flüchtlinge drängen in die Schattenwirtschaft, weil sie sonst nur schwer einen Job bekommen. Das BKA hat diese Delikte bereits auf dem Schirm – obwohl sie nicht nur Nachteile haben, sagen Ökonomen“. Zu diesem tragenden Wirtschaftssektor lesen wir, der Umfang der Schattenwirtschaft in Deutschland werde auf 339 Milliarden Euro geschätzt – auf 12,2 Prozent des offiziellen Bruttoinlandsprodukts: „Das hat das Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) berechnet. Unter Schattenwirtschaft versteht das Institut Schwarzarbeit ohne Steuern und Sozialabgaben, aber auch illegale Beschäftigung (beispielsweise illegale Arbeitnehmerüberlassung) sowie kriminelle Aktivitäten wie Drogenhandel.“ Ich warte gespannt auf solche Daten zur Flucht-Industrie.

Am Wahlerfolg der AfD am 13. März dürfte die Story „RECHTS überholt“ nichts mehr ändern. Aber wie der Streit in und um diese Partei weitergehen wird, lässt sie ahnen: „Die AfD ist das Zentrum der neuen deutschen Nationalisten. Völkische Kräfte erobern die Macht. Und Frauke Petry droht dasselbe Schicksal wie einst dem Parteigründer“. Dass Alexander Gauland vor der Machtübernahme steht und warum, leuchtet mir ein: „Gauland ist nicht an Posten oder Karriere interessiert. Ihn treibt seine Enttäuschung über die CDU um, der er lange angehörte. Ihm bedeutet die AfD vielleicht mehr als irgendwem sonst im Vorstand. Die Partei ist seine allerletzte Chance, eine national-konservative Kraft in Deutschland zu etablieren, wie er es sich in der CDU immer erhofft hatte. Wer immer sich ihm in den Weg stellt, den bekämpft er hart.“

Wieder Klassengesellschaft

In „KLASSENGESELLSCHAFT“ erfahren wir: „In Deutschland wächst die Kluft zwischen ‚guten‘ und ’schlechten‘ Lehranstalten. Vor allem gut situierte Eltern versuchen, die beste Grundschule für ihre Kinder zu finden – wenn nötig mit allen Mitteln“. Die zunehmende Zahl der Migranten-Kinder wird diesen Trend verschärfen. Was der Politik dazu einfällt, ist leicht zu erraten: der Zwang zum Schulbesuch im Schulsprengel. Auch dem würden sich Eltern entziehen: in Gated Communities mit eigenen Schulen. Die Klassengesellschaft ist wieder ein Thema.

„Krieg und Frieden“ in Teheran, der Essay von Niall Ferguson sagt: „Tolstoi und seine literarischen Zeitgenossen haben Unschätzbares geleistet. Sie haben uns Einsichten über das russische Volk vermittelt, denen sogar die stalinistische Bedrohung nichts anhaben konnte. Heute ist es ein großer Teil des Problems, und zwar bis ganz oben in die politischen Spitzen, dass wir das iranische Volk nicht gut genug kennen, und noch weniger die sunnitische Welt.“

Im Buch THEMA das Leben nach dem Krebs: sehr eindringlich. Danach sind wir erst auf Seite 15. Auch die vielen folgenden lohnen. Vor allem empfehle ich Ihnen die 20 Seiten Extrabeilage zum: „„WELT“-WIRTSCHAFTSGIPFEL STÖSST EUROPA AN SEINE GRENZEN?“

In seiner Einleitung dazu zitiert Stefan Aust Erich Maria Remarque, „Nie hat es mehr falsche Propheten gegeben, nie mehr Lügen, nie mehr Tod, nie mehr Zerstörung und nie mehr Tränen als in unserem Jahrhundert, dem des Fortschritts, der Technik, der Zivilisation, der Massenkultur und des Massenmordes“, und setzt selbst fort: „Geht man noch weiter in die Geschichte zurück, wird man vielleicht weniger Tod als im 20. Jahrhundert, dafür aber eine ähnliche Unübersichtlichkeit wie heute finden. Ein Diplomat bezeichnete diese Unübersichtlichkeit schon kurz nach dem Fall der Mauer als die ‚ganz normale Anarchie‘. In der Starre der Blockkonfrontation während des Kalten Krieges haben wir vergessen, dass nicht die Windstille im Rücken der Supermächte der Normalzustand ist, sondern eben diese Anarchie. Auf lange Zeit werden wir mit ihr leben müssen. Es heißt also: Nerven behalten!“

I couldn’t agree more.

Heute nur kurz besprochen:

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.

Das Blatt kommt weder vom Träger, noch ist es in der Innenstadt verfügbar. Manche Probleme mit belanglosem Papier scheinen sich von selbst zu lösen. Und das Blatt ist tatsächlich gesichtslos. Vergangene Woche präsentierte es sich als Korrektur-Entwurf zum Mutterblatt. Auch davon ist nichts mehr zu spüren – nichts von Belang. Man blättert ratlos. Eine hübsche Geschichte über den Davos-Mann, also den Stammbesucher. Nun gut. Ein Aufmacher über die Möglichkeit, sich eine funktionsfähige Kalaschnikov aus einem Deko-Stück zu basteln: Ist das überraschend in einem Land, in dem die Abwesenheit von Grenzkontrollen zum Staatsethos gehört? Im übrigen ist die Stimmung gerade ganz anders – angesichts der Überforderung der Polizei bewaffnen sich die Menschen mit Pfeffersprays – dieses leise Rinnsal der Aufrüstung als Reflex auf den Verfall des staatlichen Gewaltmonopols zu beschreiben, wäre spannender als das Ganovenstück. Einzig lesenswert: Eine Analyse über de Maizières wohl überzogene Kritik an der Polizei in Köln: Die von ihm geäußerte Kritik „So kann Polizei nicht arbeiten“ fällt auf ihn zurück. Das ist ein sauberes Stück Journalismus. Sonst Leere.

Ein Medienkritiker, der seinen Saunaspitznamen zum Markenzeichen für Medienkritik machen will, stammelt holprig eine komplette Spalte über Menderes, eine Figur aus dem RTL-Kosmos. Aha. Medienkritik über das Dschungelcamp? Wie witzig. Nach 10 Jahren mag man es –  oder eben wie ich nicht. Aber was garantiert Out ist – Diese zwanghafte Masche, sich über Massengeschmack lustig machen zu wollen; diese peinliche Form der Selbsterhöhung, die nur eines offenbart: Die Unfähigkeit, sich auf die Wahrheitssuche zu begeben. Es ist ein urdeutsche Methode, sich zum Blockwart aufzuschwingen, vorzuschreiben und abzuwerten. Darin offenbart sich wie in der Nussschale das Drama der Sonntagszeitung und ihrer sinkenden Auflage: Ein paar Pseudos schreiben über ihre Pseudoerkenntnisse mit Pseudowitzchen. Schade. Die Zeitung war mal ein begehrtes Leseobjekt. Jetzt kommt sie sogar zu spät, um noch Kartoffelschalen darin zu entsorgen.

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