Brexit, Nexit oder Neustart EU

Von der Landtagswahl am 4. September in Mecklenburg-Vorpommern bis zu den nationalen Wahlen in Frankreich am 23. April 2017 reißen Schlagzeilen-trächtige Wahltermine von Berlin bis Washington nicht mehr ab: schlechte Bedingungen für Vernunft in der Politik. Sonntagszeitungen für Sie gelesen von Roland Tichy und Fritz Goergen.

„Die AfD hofft, stärkste Fraktion im Schweriner Landtag zu werden“, kommentiert Torsten Krauel im FORUM der WeLT AM SONNTAG. Gelänge das am 4. September der Partei, die alle bisherigen deutschen Parteien herausfordert, würde das in seiner Stimmungsbildung weit mehr bewirken, als diesem Landtag an politischer Bedeutung zukommt. „Am 18. September in Berlin“, schreibt Krauel, „möchte sie in den östlichen Stadtbezirken die Linkspartei und die SPD deklassieren.“

Ein Wahltermin nach dem anderen

Zwischen dem lokalen Berliner Ereignis und dem globalen Aufmerksamkeitstag des 8. November, an dem die US-Amerikaner entscheiden, ob Donald Trump Präsident wird, wählen die Österreicher zwischen Alexander Van der Bellen und Norbert Hofer als Bundespräsident. Im Februar 2017, zählt Krauel weiter auf, „wählen die Holländer. Geert Wilders macht sich dort Hoffnungen auf den Chefsessel. Am 23. April dann entscheiden die Franzosen, ob Marine Le Pen in den Élysée-Palast einzieht.“ In der Aufzählung fehlt die Urwahl um das Amt des Tory-Parteichefs und des britischen Premiers am 9. September.

Die Ironie der Geschichte, exakt jene, welche aus dem Globalismus ausbrechen wollen zurück in die Übersichtlichkeit der begrenzten Internationalität im Zeitalter der Nationalstaaten, halten unsere Zeit, wenn schon nicht global, so doch im noch dominierenden Westen in Atem. Eine solche Wahlserie macht unmöglich, was am nötigsten wäre: unaufgeregt unvoreingenommene vernünftige politische Lösungen.

Nach einem Treffen der EU-Kommission mit dem slowakischen Ministerpräsidenten Robert Fico in Bratislava zur Übernahme des EU-Vorsitzes meldet DER STANDARD, Juncker habe seine Position zur Beteiligung der nationalen Parlamente an der Abstimmung über Ceta geändert und sei nun doch dafür dass diese sich „in irgendeiner beschlussfassenden Form an diesem Entscheidungsprozess beteiligen“. Fico vergaß nicht, Juncker das Verlangen nach „mehr Flexibilität bei der Migrationspolitik“ mizugeben und eine „neue Balance zwischen EU-Kommission und Nationalstaaten“ zu fordern.

Auch im Standard erfahren wir, dass der Tory-Kandidat für den Vorsitz und damit auch für den britischen Regierungschef Michael Gove im Falle seiner Wahl den Antrag auf Austritt aus der EU nicht mehr in diesem Jahr stellen wird. Das gilt auch, wenn seine Gegenkandidatin Theresa May gewinnt. Mit Berichten aus Schottland und Dublin rundet der Standard seine Informationen aus Großbritannien ab. Im Wirtschaftsteil des linksliberalen Blattes erfahren die Österreicher: „Ohne Flüchtlinge würde Arbeitslosigkeit sinken“.

Die alte Klientel der Linken gegen die EU

In der Frankfurter Allgemeinen SONNTAGSZEITUNG im Wirtschaftsteil einsichtbringende Analysen zum Brexit: Nicht die mainstream-übliche Beschimpfung, sondern Hintergründe. Der Ökonom Charles Goodhart, selbst Gegner des Brexits, schildert plausibel die Argumente der Befürworter: Für den Brexit stimmten häufig Arbeiter. „Männer machen häufiger die Erfahrung, dass Immigranten ihnen ihre Stellen streitig machen. Es sind vor allem Arbeiter-Jobs, die verschwinden …, traditionell Männerberufe. Diese Männer sind verbittert und haben nicht das Gefühl, dass die Elite ihre Probleme überhaupt zur Kenntnis nimmt.“

Diese Sätze sollte man unterstreichen. Denn auch in der bundesdeutschen Politik werden ja gerne Männer der Unterschicht zu Feinden erklärt, wenn man beispielsweise Familienministerin Manuela Schwesig zuhört: Ihr Vorschlag im Lohngleichheitsgesetz zielt ja darauf, klassische Männerjobs etwa der Auto- und Chemieindustrie abzuwerten, um die Lohnlücke zu Kindergärtnerinnen zu schließen. Dass sich Männer das gefallen lassen, gehört zur Grundannahme dieser Art von Umverteilungspolitik.

Selbstbespiegelung
DER SPIEGEL Nr. 27 - Jeder für sich
Goodhart erklärt, dass man diese wachsende Ungleichheit unterschätzt habe – „weil es der Elite relativ gut ging. Wenn man ein reicher Kapitalist war, dann waren die vergangenen Jahre sogar absolut phantastisch.“ Das ist ein Gedanke, der auch für Deutschland gilt: Die Konkurrenz findet unter Paketboten statt, nicht unter Lehrern, Unternehmern, Medizinern und Beamten, deren Lage sich angesichts jetzt wieder verfügbarer billiger Putzfrauen und Hilfskräfte eher verbessert. Die Lage der weißen, männlichen Unterschicht ist keine Untersuchung wert. Goodhart verweist auch darauf, wieviel in Europa eben verkehrt lief; die Einführung des Euro beispielsweise.

Kein Wunder, dass das „Leave-Lager“ die mitreissendere Kampagne fuhr – „Take back Control“ ist aktivierend, ermutigend, verspricht einen Sieg, der auch mancher Schwierigkeiten wert ist. Der Remain-Kampagne fehlte jede Spur von Enthusiasmus – vielleicht das eigentliche, innere Verkümmern der EU. Und ist es nicht eventuell sogar klüger, auf wachsende, dynamische Märkte in Asien und Afrika zu setzen statt auf das Kümmer-Europa? Ralp Bullmann variiert etwas länglich und umständlich Goodharts Befund und spiegelt ihn auf Deutschland. Auch Deutschland zähle zu den Ländern, die gespalten seien „zwischen einem urbanen Milieu, das bei allen Anfällen von Sozialromantik die Chancen freier Märkte nutzt … und einer Bevölkerungsgruppe, die sich zurückgesetzt fühlt und gesellschaftlich wie ökonomisch nach Halt und Autoritäten sucht.“

„Zu viel der Freizügigkeit“

Tom Bower, britischer Buch-Autor, aktuell über Tony Blair: „The Tragedy of Power“ lässt die WamS im Essay sagen:

„Siebzehn Millionen Briten waren es satt, vom nicht gewählten Herrn Juncker gesagt zu bekommen, man habe gefälligst das Luxemburger Diktat über ihr Leben widerspruchslos zu akzeptieren. Sie waren der Tiraden des publicitysüchtigen Schulz überdrüssig, der in seinem schweren deutschen Akzent den Briten nahelegte, sich entweder klaglos in ihr Schicksal zu fügen oder zu gehen. Die Mehrheit jenseits von London machte sich Sorgen über die Einwanderung und fand einfach unerhört, wie Schulz und Juncker diese Sorgen beiseitewischten. Sie wollten nur noch raus, unbeschadet aller angedrohten finanziellen Folgen.“

Wer verstehen will, was jenseits des Kanals geschah, sollte Bower lesen. Wer hören will, wie radikal anders der Blick in die Folgen sein kann, kann zu Frederick Forsyth im Sunday Express schauen:

„Years ago, in order to kowtow to Brussels and our home-grown defeatists, we turned our backs on the 56-nation Commonwealth. Back then they were poor; the EEC was rich. Not any more. Look at the Anglosphere. Canada, USA, Australia and New Zealand.

We share similar language, culture, history, governmental democracy, law codes, trading practices, accountancy methods and long bonds of friendship, in peace and on the battlefields that saved us from Nazism and communism. Our joint economies are bigger than the shrinking EU.“

Take-Over von Berlin & Co?

Aus dem Interview der WamS mit Wolfgang Schäuble diese Splitter:

  • „Im Grundsatz bin ich ein Anhänger der Vertiefung. Aber dafür ist jetzt nicht die Zeit. Wir können in Europa in der Lage wachsender Demagogie und tiefer Europaskepsis nicht einfach so weitermachen wie bisher.“
  • „Jetzt ist die Zeit für Pragmatismus. Wenn nicht alle 27 von Anfang an mitziehen, dann starten halt einige wenige. Und wenn die Kommission nicht mittut, dann nehmen wir die Sahe selbst in die Hand, lösen die Probleme eben zwischen den Regierungen. Dieser intergouvernmentale Ansatz hat sich in der Euro-Krise bewährt. Seien wir doch ehrlich, die Frage, ob das europäische Parlament die entscheidenden Rolle bekommt oder nicht, ist keine, die die Menschen sonderlich bewegt. Die Menschen interessiert, ob wir das Flüchtlingsproblem in den Begriff bekommen. Es zählen Taten, nicht hochfliegende Worte.“

Halten wir fest: Schäuble hat keinen Plan oder verrät ihn uns nicht. Ein Moratorium der Brüsseler Institutionen bei gleichzeitigem Take-Over der EU-Führung durch die Regierungen der Kernstaaten.

Reformen drängen auf die Agenda

Höchst konventionell argumentiert im Politikteil der FAS Richard Schröder, in der freigewählten Volkskammer, dann Humboldt-Uni und Ost-SPD-Politiker wütend gegen stärkere Bürgerbeiligung. „Direkte Demokratie lockt damit, dass das Volk bestimmen darf …Das ist gefährlich.“ Ja, ja, dieses Volk aber auch; und Demokratie ganz ohne Volk wäre ja schon irgendwie besser. Dann bliebe man hübsch unter sich und keiner stört den Schlaf der gerechten Eliten.

Viele der Argumente Schröders sind lesens- und bedenkenswert – die meisten davon bekannt und in bestehenden Gesetzen etwa zu Volksbefragungen und Bürgerbegehren auf Kommunal- und Länderebene längst berücksichtig. Man kann es noch mal aufschreiben. Neu ist sein aggressiver Einstieg: Er reduziert Forderungen nach Elementen von direkter Demokratie auf Pegida: Wer direkte Volksbefragung will, soll doch besser gleich rübergehen nach Dresden, wo das Böse Montags demonstriert, ist seine Botschaft.

Es ist das neue deutsche Spalter-Lied: Wer nicht für die All-Parteien-Koalition ist, ist ein Rechter. Die Reihen fest geschlossen gegen jede Veränderung! Abstempeln jedes Fragestellers, wir kennen diesen Geist aus der DDR: „Zur weiteren Behandlung der Dienststelle des Ministerium für Staatssicherheit zustellen“, lautete ein Stempel-Text für Eingaben an den Rundfunk der DDR, in denen Bürger Missstände kritisierten. Schade, dass der ehrenwerte Demokrat Richard Schröder es sich jetzt so einfach macht und Pegida ruft, wenn es um Kritik am Zustand der Beteiligung der Bürger geht. „Die direkte Demokratie reduziert das, was die parlamentarische Demokratie auszeichnet: Machtkontrolle“. Aha. Machtkontrolle hätten viele derzeit gerne. Wie wäre es mit der simplen Einsicht, dass direkte und indirekte Demokratie keine Gegensätze sind, sondern zusammen ein besseres Ergebnis von Checks and Balances versprechen?

Zum Thema Volksabstimmung gehört in Österreich auch die Briefwahl (erst 2007 eingeführt) obwohl es die bei direkten und indirekten Wahlen gibt. „Vorwärts zum E-Voting oder zurück in die Zelle“ folgert Eric Frey in seiner Nachbetrachtung zur Wiederholung der Stichwahl in Österreich. In der Schweiz werden mittlerweile 80 Prozent der Stimmen per Post abgegeben, erfahren wir, bei den wenigen Eidgenossen, die noch zur Urne schreiten, werden die Wahllokal mittags geschlossen.

Einen gesünderen Mix von Wahlverfahren bei zugleich radikaler Dezentralisierung der politischen Zuständigkeiten und Kompetenzverteilung – die ganze Palette der Politikreform liegt auf dem Tisch und kommt auch nicht wieder runter: bei den Institutionen der EU und in den Nationalstaaten.

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