Türkei-Deal: Vergebliche Mühe und Selbstaufgabe

Massive Kritik am Verhandlungsergebnis der Türkei vom CDU- Bundestagsabgeordneten Klaus-Peter Willsch: Es ist keine europäische, sondern allenfalls eine deutsch-türkische Lösung.

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Wenn die europäische Lösung nicht in Europa zu finden ist, muss sie eben außereuropäisch gesucht werden. So oder ähnlich könnte man aus Sicht des Kanzleramtes die Schlagrichtung des vergangenen Flüchtlingsgipfels vom 7. März und des nächsten von dieser Woche zusammenfassen. Die Türkei soll es jetzt lösen. Firmieren könnte das Ganze dann als Plan A.2.b.

Man will sich wieder treffen

Die Treffen der Staats- und Regierungschefs reihen sich mittlerweile aneinander wie Wochentage. Wer verstehen will, findet dieser Tage Trost im Duden: Si|sy|phus|ar|beit: sinnlose, vergebliche Anstrengung; schwere, nie ans Ziel führende Arbeit. Beschlossen wird dabei in aller Regel vor allem eines: man will sich wieder treffen.

An verkündbaren „Durchbrüchen“ mangelte es derweil nicht, sehr wohl aber an deren Langlebigkeit. Bereits im September 2015 beschlossen die EU-Innenminister mehrheitlich die Umverteilung von 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien. Stellvertretend für eine Reihe osteuropäischer Staaten kritisierte der tschechische Innenminister Milan Chovanec den Umverteilungsbeschluss scharf: der gesunde Menschenverstand sei verlorengegangen, der Beschluss nichts als eine leere Geste. Er sollte Recht behalten. Was als Beweis der Bundesregierung für die europäische Solidarität gedacht war, wurde zur Farce. Ein halbes Jahr später sind noch keine 1.000 der 160.000 verteilt.

Um die unkontrollierte Masseneinwanderung über die Ägäis in geordnete Bahnen zu lenken, sollten zudem in Griechenland Aufnahmezentren (sogenannte Hotspots) errichtet werden. Am Zustrom selbst hätte dieser Ansatz freilich nichts geändert, ihn bestenfalls berechenbarer gemacht. Ebenfalls seit September 2015 beschlossen, verschleppt die Regierung Tsipras seither die Umsetzung, um den Druck auf Mitteleuropa zu erhöhen. Irgendwo lässt sich schließlich immer noch ein Euro rauspressen. Statt Flüchtlinge zu registrieren, wurden sie unkontrolliert in Richtung der Nachbarländer durchgewunken und die Schengen-Außengrenzen sich selbst überlassen. Doch jetzt fällt den Griechen ihr neues Ausweichmanöver gegen die Sparpolitik selbst auf die Füße: Die gezielte Untätigkeit griechischer Behörden hat die zum Teil wirtschaftlich deutlich schlechter gestellten Länder auf der Balkanroute dazu gezwungen, ihre Grenzen zu schließen. Plötzlich pocht man in Griechenland wieder auf die Einhaltung europäischer Gesetze. Ich mach‘ mir die Welt, wie sie mir gefällt.

Fakten statt Alternativlosigkeit

Während die Floskel vom „Ende des Durchwinkens“ noch als Papiertiger durch Schlagzeilen und Regierungserklärungen geprügelt wurde, haben die Balkanländer Fakten geschaffen. Damit werde die vom Bundeskanzleramt propagierte Alternativlosigkeit der europäischen Lösung torpediert, heißt es. Von „Alleingängen“ ist die Rede. Alleingänge? Ein Plural ohne semantischen Sinn, wie die „Einzelfälle“ in der Silvesternacht. Wer genau ist eigentlich der Geisterfahrer der europäischen Solidarität, wenn Deutschland mit seinen Forderungen alleine da steht, Österreich aber gemeinsam mit neun südosteuropäischen Staaten im Februar eine Konferenz abhält, die umgehend konkrete gemeinsame Maßnahmen hervorzubringen im Stande ist? Hier steht politischer Realismus gegen deutsche Hybris.

Der österreichische Verteidigungsminister Doskozil bietet Mazedonien Hilfe bei der Grenzsicherung an, weil man „jene Länder, die für uns einen wichtigen Job bei der Grenzsicherung übernehmen, nicht hängen lassen sollte“. Albanien bittet Italien um Hilfe. Kroatiens Regierungschef Tihomir Oreskovic lobt die enge Zusammenarbeit zwischen Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien. Die europäische Lösung gibt es, ihr Konsens liegt nur fernab des Kanzleramtes.

FAZ-Herausgeber Holger Steltzner hat die Lage kürzlich treffend beschrieben: „Man könnte es auch überheblich nennen, wenn in Berlin – im Machtgefühl des Regierens ohne Opposition – so getan wird, als gebe es eine europäische Lösung in der Flüchtlingskrise unter deutscher Führung, obwohl jeder sieht, dass die Politik der Grenzschließung der kleineren Länder entlang der Balkan-Route die Flüchtlingszahlen reduziert hat – und das gegen den Willen Berlins.“

Deutschland überfordert die Transitländer

Deutschlands offene Grenzen haben die Kapazitäten der Transitländer so überstrapaziert, dass ihnen nichts anderes übrig blieb, als die Grenzen dicht zu machen. Deutschland profitiert von den seither drastisch gesunkenen Zugangszahlen am meisten, behält aber seine moralische weiße Weste. Verantwortlich für die Bilder an den Grenzzäunen sind schließlich andere.

Noch ein weiterer wesentlicher Teilaspekt dieser Entwicklung blieb in der Debatte bislang leider unerwähnt: der Kontrollverlust an der deutschen Grenze und die damit einhergehende Gefährdung integraler Bestandteile unserer Staatlichkeit wurde seinerzeit damit relativiert, dass man Grenzschließungen und -kontrollen ohnehin nicht wirksam durchsetzen könne. Illegale Einwanderer könnten auf die grüne Grenze ausweichen. Die Balkanländer haben „uns“ nun eines Besseren belehrt. Selbstverständlich kann, ja muss ein funktionierender Staat jederzeit Herr seiner Integrität sein. Schon damals habe ich gesagt, eine Rechtfertigung für die Aufgabe staatlicher Souveränität darf es nicht geben.

Die europäische Lösung nach deutscher Vorstellung ist in weite Ferne gerückt. Derzeit wäre es wohl zutreffender, von einer türkisch-deutschen Lösung zu sprechen – zumindest mit Blick auf den Verhandlungsgegenstand des derzeitigen Gipfels. Früh habe ich davor gewarnt, die Türkei an den Lautstärkeregler zu lassen, jetzt spielt sie die Musik:

Erstens, zu den bereits zugesagten drei Milliarden Euro, sollen bis Ende 2018 noch weitere drei Milliarden Euro hinzukommen; Zweidrittel davon müssen durch die Mitgliedsstaaten aufgebracht werden, von Deutschland natürlich der Löwenanteil. Zweitens, bereits ab Sommer soll die Visumpflicht für alle 78 Millionen türkischen Staatsbürger in den Schengen-Staaten entfallen. Drittens, sollen die EU-Beitrittsverhandlungen der Türkei um wesentliche Kapitel erweitert werden.

Viertens, die Türkei erklärt sich bereit, alle neu illegal von der Türkei aus in Griechenland ankommenden Einwanderer zurückzunehmen. Im Gegenzug soll die EU für jeden Zurückgeschickten einen syrischen Flüchtling aus der Türkei legal aufnehmen. Dabei soll die EU sämtliche Kosten für die Rückführung illegaler Migranten in die Türkei übernehmen. Dieser Mechanismus liefe nun also doch auf eine Kontingentlösung hinaus und damit auf einen Ansatz, den wir im vergangenen September schon auf dem Tisch hatten. Ziel sei es, illegale Migration und Schleuserkriminalität wirksam zu bekämpfen, erklärt die Bundesregierung. Und mehr ist es auch nicht: illegale Migration wird in legale Migration umgetauft. Die Krise bekommt ein neues Etikett und bleibt doch dieselbe. Am eigentlichen Zustrom ändert sich nichts. Knapp drei Millionen Syrer sind derzeit in der Türkei registriert und könnten durch diese Regelung nach Europa gelangen.

Sind wir noch ernst zu nehmen?

Die Verhandlungen mit der Türkei sind nun aber ungleich delikater. Es liegt weit jenseits meines Verständnisses, wie man nach den innenpolitischen Erdrutschen in der Türkei überhaupt einen Beitritt zur ohnehin schon fragilen europäischen Wertegemeinschaft ins Gespräch bringen kann. Der Rechtsstaat gehört nicht auf den Verhandlungstisch. Auch die österreichische Innenministerin Johanna Mikl-Leitner zeigte sich fassungslos: „Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir uns noch ernst nehmen.“

Ausgerechnet Erdogan würden damit die erfolgreichsten Zugeständnisse der EU an die Türkei gelingen – das wohl „falscheste“ politische Signal angesichts der innenpolitisch höchst prekären Lage des Landes. Der Popularitätsschub würde Erdogan und seine AKP in ihrem freiheitsfeindlichen und repressiven Kurs weiter stärken. Auch Cengiz Aktar, Professor für Politische Wissenschaften an der Istanbuler Sabanci-Universität, warnt vor einer Abschaffung der Visumpflicht: „Da sind zum Beispiel all die potentiellen Asylanten aus der Türkei, deren Zahl wegen des andauernden Krieges in Kurdistan täglich wächst. Und dann gibt es mehrere tausend türkische IS-Mitglieder. Wer wird sie daran hindern, in das Territorium der Schengen-Zone einzureisen, wenn die Visumpflicht fällt?“

Und während das hierzulande schon wieder als „Durchbruch“ gefeiert wird, hat der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Raad al Hussein, die Praxis bereits für illegal erklärt. Wie die Türkei das bisher Zugesagte einhält, zeigt ein Bericht meines Kollegen Michael Brand, den die BILD dokumentiert hat.

Leistet der Migrationsstrom denn nun wenigstens den erhofften Beitrag zum Fachkräftemangel? Ein tagesaktuelles Gutachten des IW Köln „zu den gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der aktuellen Flüchtlingsmigration“ lässt aufziehende dunkle Wolken erahnen. Die Arbeitsmarktdaten für Personen aus den Hauptherkunftsländern stimmen pessimistisch: „Besonders ungünstig stellt sich die Lage in dieser Dimension bei den Syrern dar.“ 13.696 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Dezember 2015 stehen 56.830 Arbeitslose (Stand: Februar 2016) und 130.016 Bezieher von Grundsicherung (Stand: November 2015) gegenüber. Die sozialversicherungspflichtig Beschäftigten gingen zudem nur selten einer qualifizierten Tätigkeit nach, mehrheitlich aber ungelernten Helfertätigkeiten. Zweidrittel der Flüchtlinge verfügten zudem über keinerlei berufliche Bildung. Nur selten brächten sie die Engpassqualifikationen mit, die den Fachkräftemangel im Wesentlichen bestimmen. Das sei nicht zuletzt der Wirtschaftsstruktur ihrer Herkunftsländer geschuldet, deren Kernbranchen und Gewerbestruktur sich grundlegend von unserer Industrie unterscheiden.

Das IW Köln hat sich übrigens auch an einem mittelfristigen Preisschild für die Flüchtlingskrise versucht: Ausgehend von stark sinkenden Zuwanderungszahlen zwischen den Jahren 2015 und 2017 taxiert das Institut die Kosten für den deutschen Steuerzahler im gleichen Zeitraum auf 55 Milliarden Euro.

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