Sozialisten-Dämmerung in Südamerika

Der von europäischen Linken angehimmelte „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ in Lateinamerika ist gescheitert. Reihenweise werden linke Regierungen abgewählt. Doch der Neuanfang wird schwierig. Von Marcela Vélez-Plickert.

© Igo Estrela/Getty Images
Luiz Inacio Lula da Silva (L) mit Präsidentin Dilma Rousseff

Fast anderthalb Jahrzehnte hielten linksgerichtete Regierungen den größten Teil Südamerikas fest im Griff. Gar überschwängliche Hoffnungen hatten viele linke Intellektuelle auf die Utopie des „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ gesetzt, die Venezuelas Machthaber Hugo Chávez propagierte. Doch die Dominanz sozialistischer Regierungen und Ideen ist nun innerhalb kurzer Zeit implodiert, untergegangen in einem Strudel aus Misswirtschaft, Ölpreisverfall und Korruption. Südamerika erlebt derzeit einen rasanten Epochenwandel – das Ende der jüngsten sozialistischen Ära.

Es ging Schlag auf Schlag seit Ende vergangenen Jahres: Erst verloren in Venezuela die Chavisten die Kontrolle über das Parlament. Nur noch mit einem Ermächtigungsgesetz klammert sich der Staatspräsident Maduro an die Macht. In Argentinien vertrieben die Wähler die Linksperonisten im Dezember aus dem Präsidentenpalast. Und in Brasilien steht die linksgerichteten Präsidentin Dilma Rousseff auf der Kippe. Das Parlament hat vergangene Woche gegen sie ein Amtsenthebungsverfahren eingeleitet. Das Land ist erschüttert vom gigantischen Korruptionsskandal rund um den staatlichen Ölkonzern Petrobras und steckt in der tiefsten Rezession seit achtzig Jahren.

Brasilien erlebe seine „dunkelste Stunde“, schreibt der „Economist“. Millionen Demonstranten sind auf die Straße gegangen, um ihrem Ärger Luft zu machen. Mehr als hundert Funktionäre aus Politik und Wirtschaft wurden seit vergangenem Jahr im Zusammenhang mit dem Petrobras-Skandal verhaftet und 93 schon verurteilt – wegen Schmiergeldvergabe, Bestechlichkeit und Betrug. Der Erdölkonzern Petrobras war Zentrum eines riesigen Korruptionsnetzwerks, von dem aus Gelder in umgerechnet zweistelliger Dollar-Milliardenhöhe in andere Bereiche flossen, sowohl zu anderen Unternehmen für gekaufte Aufträge als auch in die Politik.

Ein Hauptbegünstigter der Schmiergeldzahlungen war wohl die Arbeiterpartei von Präsidentin Rousseff und ihrem Vorgänger, dem einst sehr populären Lula da Silva. Diesen wollte sie im März, als die Korruptionsermittler ihm schon auf den Fersen waren, wieder in ihr Kabinett holen, was ihn vor Strafverfolgung geschätzt hätte, doch wurde die Nominierung durch die obersten Richter blockiert. Seitdem hat sich der Verfall der politischen Autorität in Brasilien beschleunigt. Das fünftgrößte Land der Erde wirkt wie gelähmt.

Ein trauriger Fall ist auch Ecuador, das vor gut einer Woche von einem verheerenden Erdbeben mit bislang etwa 650 Todesopfern getroffen wurde. Die materiellen Schäden sind eine schwere Belastung für die größtenteils arme Bevölkerung. Präsident Rafael Correa hat bei einem Besuch in der zerstörten Stadt Portoviejo seine Maske fallen gelassen. Als verzweifelte Menschen nach Wasser und Hilfen schrien, blaffte der Präsident sie an: „Niemand schreit, oder ich schicke euch ins Gefängnis!“

Das ist derselbe Correa, der bei einem Besuch in Berlin vor drei Jahren in der Technischen Universität 1.700 linke deutsche Studenten mobilisierte, die seinen verlogenen Reden über die angeblich vorbildlichen Reformen in Ecuador begeistert lauschten. Correas Janusgesicht zeigt sich immer wieder: Zuhause unterdrückt er die freie Presse und zerrt kritische Journalisten vor Gericht, in der Londoner Botschaft beherbergt er Julian Assange, den Wikileaks-Gründer, und lässt sich dafür als Held für Informationsfreiheit feiern.

Das Erdbeben nutzt der Präsident nun als Anlass für eine kräftige Steuererhöhung, die dringend benötigtes Geld in die leeren Kassen bringen soll – angeblich für den Wiederaufbau, doch viele Bürger zweifeln daran. Das Land steckt in einer tiefen Rezession mit einer Schrumpfung des BIP um 9 Prozent im vergangenen und diesem Jahr (laut IWF-Prognose vor dem Erdbeben). Nur Venezuela steht auf der Welt noch schlechter da, dort soll die Wirtschaftsleistung laut IWF-Prognose über zwei Jahre sogar um 18 Prozent sinken.

Ölpreisverfall beschleunigt den politischen Wandel

Das hat natürlich einiges mit dem Ölpreisverfall zu tun. Der Kollaps der Preise für Erdöl und andere Rohstoffe beschädigt die Wirtschaft vieler lateinamerikanischer Länder schwer. Doch am Ende könnte er sich sogar als Segen herausstellen, denn er hat den politischen Wandel befördert und die Sozialisten entzaubert.

Überall in Lateinamerika hatten die linkspopulistischen Regierungen den Rohstoffpreisboom seit der Jahrtausendwende genutzt, um mit großen Sozialleistungs- und Wohlfahrtsprogrammen die Zustimmung der ärmeren Wählerschichten zu erkaufen. Beginnend in Venezuela mit der Machtübernahme von Chávez 1999, dann in Argentinien, Brasilien, Bolivien, Ecuador und Nicaragua bildete sich ein linkspopulistisches Politikmuster heraus. Chávez nannte dies „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“, ideologisch inspiriert durch das kommunistische Kuba, dem Chávez mit verbilligten Öl-Lieferungen unter die Arme griff. Hunderte Unternehmen wurden verstaatlicht, protektionistische Zölle gegen Importe eingeführt, die Bürokratie ausgebaut und die Staatsausgaben massiv hochgefahren. Während sie die Sozialleistungen und Transfers an die ärmeren Schichten ausweitete, vernachlässigte die Regierung in Caracas aber die Investitionen und die Infrastruktur des Landes.

Venezuela besitzt die größten Ölreserven der Erde und könnte so reich wie Saudi-Arabien sein, doch seine Bürger müssen stundenlang vor leeren Supermärkten Schlange stehen, alle Güter sind rationiert. Politisch errichtete Chávez ein autoritäres Staatssystem mit Repressionen gegen die freien privaten Medien und die Opposition. Auch die anderen Regierungen, die Venezuelas Vorbild nacheiferten, schränkten die politische Freiheit ein. Kritiker sprachen deshalb von einer Tendenz hin zur „demokratischen Diktatur“.

Doch der Rohstoffboom überstrahlte zunächst alles. Als Chávez 1999 an die Macht kam, lag der Ölpreis bei 20 Dollar je Fass, bald darauf stieg er auf mehr als 100 Dollar. Entsprechend wuchsen die Staatseinnahmen, Chávez konnte ein Füllhorn an Sozialleistungen über seine Wählerschaft ausgießen. Im In- und Ausland jubelten Sympathisanten über ein soziales und wirtschaftliches „Wunder“, das der linken Regierung gelinge, die dem US-amerikanischen „Imperium“, dem „Finanzkapitalismus“ und dem „Neoliberalismus“ die Zähne zeigten. Auch in Europa hatte und hat die Bewegung der lateinamerikanischen Linken viele Sympathisanten. Griechenlands Syriza-Regierung, Podemos in Spanien, die portugiesische grün-kommunistische CDU, die deutsche Linkspartei sowie der britische Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn zählen zu den Bewunderern des venezolanischen Modells.

Doch der Verfall der Rohstoffpreise im vergangenen Jahr hat deutlich gemacht, dass das „Wunder“ kaum mehr als eine Illusion war. Private Investoren wurden durch Enteignungen sowie die umfassende staatliche Regulierung abgeschreckt. Zugleich hat die einseitig auf Rohstoffe ausgerichtete Wirtschaftsstruktur Korruption begünstigt, es ist eine überbordende, ineffiziente Bürokratie entstanden. Venezuela ist das Land mit der größten Zahl an Ministerien: Es gibt 32 Minister und 107 Vizeminister, darunter einen „Glücksminister“. Die Produktivität der Wirtschaft sank stetig, weil sie von Regulierung und Missmanagement gelähmt war und Investitionen vernachlässigt wurden. So kam es, dass die Ölförderung deutlich sank, weil die Produktionsanlagen marode sind und kompetentes Personal (Techniker und Manager) im Ölkonzern PDVSA durch linientreue Chávez-Parteigenossen ersetzt wurde. Venezuelas Wirtschaft war also klar im Niedergang, nur wurde dies durch die hohen Preise zeitweilig verdeckt. Die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika (CEPAL) hat aber kürzlich nachgewiesen, dass schon während der Spätphase der hohen Preise für Rohstoffe der Kampf gegen die Armut stagnierte und in Ländern wie Venezuela und Argentinien die Armutsquote stieg.

Das sozialistische Wunder als ideologische Illusion

Venezuelas „Wirtschaftswunder“ war vollständig auf Öl gebaut. Nachdem sich der Preis von 100 Dollar je Barrel seit Sommer 2014 mehr als halbiert hat – derzeit liegt er etwas über 40 Dollar – sind Venezuelas Einnahmen und die Volkswirtschaft drastisch geschrumpft. Aktuell kommt noch die Energiekrise hinzu. Die liegt zum einen an einer Dürre und austrocknenden Flüssen, die Wasserkraftwerke lahmlegen, zum anderen aber auch an jahrlanger Vernachlässigung von Investitionen in die Stromversorgung. Präsident Nicolás Maduro hat nun die Frauen des Landes aufgefordert, sich nicht mehr die Haare zu föhnen, um Strom zu sparen. Außerdem werden sämtliche öffentliche Einrichtungen an Freitagen geschlossen und die Uhr um eine halbe Stunde umgestellt – all das soll den Energieverbrauch senken.

Richtig Spitze ist Venezuela nur bei der Inflation. Die Teuerungsrate nähert sich 700 Prozent, fast alle Güter des täglichen Bedarfs sind knapp und werden rationiert. Nur noch dank der Milliarden-Kredite aus China kann der Präsident den unmittelbaren Staatsbankrott abwenden – und dafür verpfändet er die Rohstoffproduktion für viele Jahre im Voraus.

Während die sozialistische Staatsführung in Venezuela angesichts des ökonomischen Desasters zu sowjetartigen Kontrollen greift, versucht Argentinien unter dem neuen Staatspräsidenten Mauricio Macri eine 180-Grad-Wende. In nur hundertfünfzig Tagen nach seiner Amtsübernahme im Dezember hat Mauricio Macri den „Default“ überwunden (den staatlichen Zahlungsausfall, weshalb Argentinien keinen Zugang zum internationalen Kapitalmarkt hatte), die Kapitalkontrollen aufgehoben, die Währung freigegeben und Subventionen abgeschafft, um die zerrütteten Staatsfinanzen zu sanieren. Umfragen zeigen, dass die Argentinier wieder Hoffnung fassen.

Der politische Wandel in Lateinamerika ist mit Händen zu greifen. Die Mittelschicht, die im vergangenen Jahrzehnt gewachsen ist, hat ein neues Selbstbewusstsein gegenüber der Obrigkeit entwickelt. Anders als in früheren Zeiten, etwa Wirtschaftskrisen in Lateinamerika häufig zu Militärputschen führten, entledigen sich unzufriedene Bürger heute ihrer Regierungen an der Wahlurne. In Venezuela könnte der Kollaps der chavistischen Regierung kurz bevorstehen. Neuwahlen in Brasilien sind wahrscheinlich. In Ecuador hat sich erstmals seit Langem ein ernstzunehmender bürgerlicher Oppositionskandidat, Guillermo Lasso, gegen Correa positioniert. In Peru ist in der Stichwahl in anderthalb Monaten die Linke gar nicht mehr vertreten, es stehen nur noch zwei rechte Politiker, eine Konservative und ein Marktliberaler, zur Wahl. Die Belege für die Abkehr Lateinamerikas von der Linken sind erdrückend.

Noch ist keineswegs sicher, wohin der Weg führt. Ob es den sich von der Linken abwendenden Ländern gelingt, einen dauerhaft friedlichen und nachhaltigen politisch-ökonomischen Wandel zu bewerkstelligen, wird entscheidend dafür sein, ob 2016 eine Aufbruchphase oder aber eine neue Periode der Instabilität beginnt. Aber die Hoffnung ist groß, dass die Lateinamerikaner von den sozialistischen Versprechungen vorerst die Nase voll haben und eher marktwirtschaftlich orientierte Reformer wählen. Die Region braucht dringend einen Neuanfang.

Marcela Vélez-Plickert hat anderthalb Jahrzehnte als Redakteurin für verschiedene lateinamerikanische Zeitungen und einen TV-Sender gearbeitet. Seit vier Jahren lebt sie in Frankfurt und schreibt als freie Korrespondentin.

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