Merkels Auflösung des Politischen

Es gilt zentrale Elemente des Politischen öffentlich neu zu durchdenken und zu rekonstruieren angesichts des derzeitigen Demontageprozesses. Wer in der Migrantenkrise eine andere Politik will, der muss sich wohl bis zu den Bundestagswahlen gedulden, erklärt Joachim Stark.

Die Erläuterungen und Rechtfertigungen der Bundeskanzlerin ihrer Politik in der Flüchtlings- und Migrationskrise im Gespräch mit Anne Will am 28. Februar haben nicht nur Leserinnen und Leser von „Tichys Einblick“ massiv irritiert. In den Kommentaren zu Stephan Paetows Abriss dieser öffentlich-rechtlichen Veranstaltung wird  im wesentlichen Fassungslosigkeit deutlich: Merkels Auftritt wird charakterisiert mit „Chuzpe“, „Narzissmus in pathologischer Form“, „Abgehobenheit von demokratischer Legitimation“, „Realitätsverweigerung“. Ein Kommentar spricht gar von einer „Amokläuferin“, die von einem „politisch-medialen System“ mehrheitlich auch noch unterstützt wird.

Eine in der Tat zwiespältige und insgesamt beunruhigende Gesprächsrunde, voll von Widersprüchlichkeiten und rhetorisch-logischen Verrenkungen wie etwa der Behauptung Merkels: “Meinen Weg halten alle für vernünftig, sie glauben nur noch nicht richtig daran.”

Merkels Politikverständnis: inkompatibel mit der Welt der Macht

Aber schauen und hören wir noch einmal genauer hin. Lassen wir diese – selten genug – öffentlich präsentierten Gedankengänge der Kanzlerin noch einmal Revue passieren, und versuchen wir, aus dem Zusammenhang und dem Subtext ihrer Einlassungen ihr aktuelles Politikverständnis zu destillieren, soweit das möglich ist. Dies mag helfen, sich in der aktuellen Situation zumindest intellektuell zu orientieren und dies ohne Schönfärberei, Wunschdenken und polemische Aufrüstung.

Es wird sich zeigen, dass wir es mit einem Politikansatz zu tun haben, der nur wenig kompatibel scheint mit der Welt, wie sie nun einmal ist: Eine Welt, in der es nun einmal um Macht von Staaten und ethnischen Gruppen geht, um Einflusssphären, um das Überleben politischer Regime und Staaten, um das Streben von ethnischen Gruppen nach einem Staat, um nationale Interessen, wie immer die jeweiligen Machteliten von Fall zu Fall definieren mögen -, ja, und auch um die Ausbreitung und letztlich Weltherrschaft von politischen Religionen, wie dem zu einer Ideologie mutierten islamischen Extremismus.

Die Kanzlerin gab sich zwar wieder einmal Mühe, ihre Politik bzw. Nicht-Politik möglichst zu verschleiern, indem sie immer wieder im Ungefähren blieb und stattdessen Glaubensbekenntnisse in sich selbst abgab oder mit appellativen, gleichwohl unpräzisen Formulierungen Aktivität und Handlungsfähigkeit insinuierte. Hier einige Aussagen, im Wesentlichen inhaltlich sinngemäß wieder gegeben (das Appellative und Unbestimmte jeweils kursiv):

„Wir sind auf dem richtigen Weg“

Wir arbeiten daran, die Flüchtlingszahlen spürbar zu reduzieren. Wie viele noch kommen werden, lässt sich nicht sagen, aber es werden sehr viele sein. Wir arbeiten daran, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Wir müssen verhandeln, einen Ausgleich finden, mit Geld helfen. Ich glaube, wir sind auf dem richtigen Weg. Aber ich bekomme mit der Türkei keine Vereinbarung hin, wenn ich hier in Deutschland eine Obergrenze festlege.

Ich bin optimistisch, dass uns der europäische Weg gelingt. Es lohnt sich dafür zu arbeiten. Und nein, ich habe keinen Plan B, falls wir uns in Europa nicht einigen am 7. März, dann muss ich eben weiter machen.

Ja, es ist für viele alles zu langsam. aber ich kann mich nicht mit kurzfristigen Lösungen befassen, wir brauchen langfristige, nachhaltige Lösungen. Das ist der einzige richtige Weg. Vielleicht bringen die Bilder aus Mazedonien jetzt einen gewissen Effekt …

Ich bin Bundeskanzlerin, ich vertrete die ureigensten Interessen Deutschlands, indem ich mit anderen zusammen die Probleme löse. Wir werden aus der Krise stärker herauskommen, inklusive Europa, als wir hineingegangen sind. Es ist alles logisch durchdacht…, usw.

Wenn man diese Einlassungen hört, dann kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass angesichts der Herausforderungen und Probleme hier mit dem unpassenden Werkzeug hantiert wird. Um beim Bild des Handwerks zu bleiben: Ein Wasserrohr in der Küche ist undicht, das Wasser steht schon Zentimeter hoch auf dem Fußboden. Zwecks Problemlösung wird mit verschiedenen Installateuren über den Auftrag verhandelt, das Leck abzudichten. Das dauert natürlich. Zudem wissen einige noch nicht, ob sie überhaupt verfügbar sind, andere haben schon abgesagt. Eigenhändig den Leitungs-Haupthahn zu schließen kommt jedenfalls nicht in Betracht, da man ja den Verhandlungen mit den Handwerkern nicht vorgreifen will.

Mangel an common sense

Das ist das zweifelhafte Bild, das die Politik in Deutschland derzeit abgibt, die Bundeskanzlerin allen voran. Das wird von kritischen Teilen des Publikums, darunter viele LeserInnen von „Tichy’s Einblick“, als Unangemessen, als Inkompatibel, als Mangel an common sense wahrgenommen und sorgt bei vielen Beobachtern für Fassungslosigkeit, ja Verzweiflung.

Aber schauen wir noch einen Schritt weiter. Mit welchem Politikverständnis haben wir es hier zu tun? Wenn man sich die Ausführungen der Kanzlerin anhört, dann geht es ihr immer wieder um Lösungen mit anderen zusammen, um einen gemeinsamen Weg in Europa, um das Finden eines Ausgleichs, um Verhandeln.

Problemlösungen ad calendas graecas

Hier scheint eine Hauptursache der politischen Malaise zu liegen: Merkels Ansatz ist, zu reden, statt zu handeln, und zu verhandeln, statt zu entscheiden. Problemlösungen werden sehenden Auges ad calendas graecas verschoben – man verzeihe diese wohlfeile Anspielung auf ein EU-Mitglied in Südeuropa – und abhängig gemacht von immer neuen Konferenzen auf EU-Ebene, von Reisediplomatie der Bundesminister, Gesprächen mit der Türkei etc. Klare Ansagen und Signale an die Flüchtenden und Armutsmigranten, die ohne Beeinträchtigung anderer Staaten gesetzt werden könnten, unterbleiben aber.

Unterdessen kommt die Migrationskrise ungebremst in der Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger an: In leer stehende Einfamilienhäuser in reinen Wohngebieten ziehen unversehens Flüchtlinge ein. In bislang beschaulichen Stadtvierteln werden plötzlich von den Kommunen oder Regierungsbezirken Objekte angemietet, wo Dutzende oder Hunderte von Flüchtlingen untergebracht werden usw. Die gewohnte Lebenswelt der Menschen in den Dörfern und Stadtteilen verändert sich. Die bundesweiten Kosten zur Versorgung der Migranten werden irgendwo zwischen 9 und 18 Milliarden Euro pro Jahr beziffert, der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Gerd Müller (CSU) spricht gar von 25 Milliarden, die für die bislang gut eine Million Flüchtlinge aufgewendet werden müssen (Münchner Runde, Bayerischen Fernsehen, 1. März 2016). Dies Zahlen nur zur Verdeutlichung: die Politik des Redens hat spürbare Folgen für die Bürger, im alltäglichen Lebensumfeld, aber auch, was mittel- und langfristig die Ressourcenverfügbarkeit im Gemeinwesen betrifft.

Gesinnungsethik als Richtschnur?

Es ist schon oft angemerkt worden, Merkels Flüchtlingspolitik sei primär gesinnungsethisch geprägt. Damit ist gemeint, sie mache einen ethisch-moralischen Imperativ, etwa den der Bergpredigt, zur absoluten Richtschnur ihres politischen Handelns.

Merkel würde aus ihrer Sicht ihr Handeln vermutlich nicht als gesinnungsethisch einstufen. Sie würde immer das Verantwortungsvolle ihrer Politik unterstreichen. Denn sie bedenke schließlich immer die Folgen, z.B. für Griechenland, für Jordanien, für den Libanon, und natürlich auch für Deutschland. Indessen: Die Folgen ihres Nicht-Handelns für ihr eigenes Land sind aus ihrer Sicht anscheinend zu vernachlässigen. Denn, wie wiederholte sie auch wieder bei Anne Will: „Deutschland ist ein starkes Land …“. Und, in einer Wendung gegen Forderungen der SPD, für die sozial Schwächeren müsse nichts getan werden, da habe die jetzige Koalition schon genug auf den Weg gebracht.

Für Max Weber, den Schöpfer des idealtypischen Begriffspaars von der Gesinnungs- und Verantwortungsethik (Der Beruf zur Politik, 1919), hätte indessen die Bergpredigt niemals Richtschnur politischen Handelns sein können und dürfen: „… wenn es in Konsequenz der akosmistischen (weltlosen, weltfernen, JS) Liebesethik heißt: ‚dem Übel nicht widerstehen mit Gewalt‘, – so gilt für den Politiker umgekehrt der Satz: du sollst dem Übel gewaltsam widerstehen, sonst – bist du für seine Überhandnahme verantwortlich.“ Für Weber war der Begriff des Politischen noch wesentlich geprägt durch Macht und ihr spezifisches Mittel, die Gewaltsamkeit. Das würden wir Heutigen in dieser Ausschließlichkeit nicht mehr so sehen.

Gravierendes Defizit im Politikverständnis

Aber neben dieser de facto gesinnungsethischen Komponente es gibt noch ein mindestens ebenso gravierendes Defizit in Merkels Politikverständnis, das noch folgenreicher scheint für das Land, dessen Geschicke zu lenken sie vom Parlament berufen wurde:

In ihrer Politik geht es nicht primär um Handeln, sondern um Verhandeln. Politik wird reduziert auf das Reden, um nicht handeln zu müssen, im Grunde also um die Lizenz zum Nicht-Handeln, oder zumindest um das Hinausschieben des Handelns.

Merkel will eben keine alleinige Verantwortung für die Politik des Staates Deutschland übernehmen, sondern sich möglichst alles absegnen lassen von den anderen EU-Regierungschefs. Dazu steht allerdings im Widerspruch, dass sie im September 2015 ohne Absprache mit der EU die Flüchtlinge aus Ungarn durch gewunken hat. Doch das kümmert sie nicht weiter. Begründung: hier galt ein humanitärer Imperativ. Auch dies übrigens eine Nicht-Entscheidung nach ihrem eigenen Bekunden bei Anne Will. Sie habe eben nicht die Grenzen geöffnet. Sie habe diese vielmehr nicht geschlossen (Was ihr bei Anne Will I noch kein Büchsenspanner aufgeschrieben hatte). Damit, so möchte man hinzufügen, hat sie den Dingen ihren Lauf gelassen und anderen EU-Ländern viele Fragezeichen aufgegeben. Viele hätten sich hier eine klare Entscheidung gegen den Zuzug gewünscht, Schengen hin oder her. Es schien der Kanzlerin jedenfalls einfacher, die Kosten des Nicht-Handelns auf Deutschland abzuwälzen, als eine Entscheidung zu treffen.

Politik heißt auch wesentlich Entscheidung und Aktion

Angesichts dieser Verkürzung, Auflösung und geradezu Destruktion des Politikbegriffs gilt es in Erinnerung zu rufen: Politik im Sinne von Beeinflussung und Lenkung jener Angelegenheiten, die ein Gemeinwesen insgesamt betreffen, ist wesentlich auch Entscheidung und Aktion bzw. Handeln. Es gilt in einer gegebenen Situation Prioritäten zu setzen und zu den geringsten Kosten für das eigene Gemeinwesen Maßnahmen zu definieren, die etwaigen Schaden abwehren. Bezogen auf die aktuelle Problemlage heißt das: den Migrantenzustrom zeitnah durch konsequente Grenzkontrollen zu begrenzen und die klare Botschaft auszusenden, dass die Aufnahmebereitschaft Deutschlands erschöpft ist. Wie so etwas geht, hat der österreichische Bundeskanzler Faymann vorexerziert mit der Einführung von Obergrenzen und der Aussage: „Österreich ist nicht der Warteraum für Deutschland.“

Merkel unterlässt diese klaren Entscheidungen weiterhin, auch wenn sie nur zwei Tage nach dem Interview bei Will zum Migrantenrückstau an der griechisch-mazedonischen Grenze sagt, die Probleme müssten dort in Griechenland gelöst werden. Prioritäten werden nicht gesetzt. Stattdessen will Merkel viele Ziele gleichzeitig erreichen: Schutz der Außengrenzen durch die EU, Aufnahme von Kontingenten in anderen EU-Staaten, den Schengen-Raum offen halten, eine Vereinbarung mit der Türkei zur Beendigung der Schleppertätigkeit, ökonomische Hilfen für die Flüchtlinge in Syrien und den angrenzenden Staaten, Vereinbarungen mit den Maghrebstaaten etc.

Ob und wann alle diese Schritte spürbar wirken werden, bleibt ungewiss. Es handelt sich sozusagen um Schecks auf die Zukunft, ob sie gedeckt sind und eingelöst werden, kann niemand sagen, auch Frau Merkel nicht. Und einen „Plan B“ hat Frau Merkel, wie schon zitiert, ebenfalls nicht. Dies zu glauben fällt einem politischen Beobachter allerdings schwer. Ob ein Erdogan und ein Davutoglu dies glauben, darüber sei hier nicht spekuliert.

Spätfolge der politischen Kultur in Deutschland

Dieser von Merkel praktizierte Politikbegriff, der fast ausschließlich um das Verhandeln und das Gespräch kreist, ist wohl eine Spätfolge der deutschen politischen Kultur, so wie sie sich seit den 1960er und 1970er Jahren herausgebildet hat. Hier ging es primär um Emanzipation, Transparenz und Kontrolle staatlichen Handelns, es ging um Toleranz, Partizipation, Mitbestimmung, Chancengleichheit etc. Und 1989/90 wurde den Westdeutschen die Wiedervereinigung regelrecht von den Ex-Alliierten geschenkt (wenn auch nicht im ökonomischen Sinne: die Kosten der Vereinigung waren für alle Deutschen enorm). Für die Vereinigung kämpfen mussten nur die Menschen in der DDR. Das hat womöglich Folgen bis zum heutigen Tage.

Die macht- und realpolitischen Realitäten der globalisierten Welt kommen in diesem behüteten Universum der Bundesrepublik nur noch am Rande vor. Die Deutschen in ihrer übergroßen Mehrheit wollen nicht Teil sein der großen Weltgeschichte, die leider auch aus harten Interessengegensätzen zwischen Staaten, aus Gewalt, Krieg und ökonomischen Ungleichheiten besteht. Das 20. Jahrhundert mit seinen zwei apokalyptischen Kriegen und dem Holocaust hat sich tief ins kollektive Bewusstsein eingegraben. Insofern ist Merkels Politik des Redens und Verhandelns vielleicht nur Ausdruck einer gesellschaftlichen Grundstimmung.

Aber dieser Konsens ist jetzt bedroht. Merkels Migrationspolitik spaltet die Gesellschaft in Gesinnungsethiker und Verantwortungsethiker. Das Reduzieren der Dimension von Entscheidung und Handeln zugunsten des prinzipiell endlosen Gesprächs und Verhandelns beraubt das Politische einer seiner wesentlichen Dimensionen. Wer nun einwendet, dass auch ein Nicht-Entscheiden doch auch eine Entscheidung sei, für den sei angemerkt, dass die Nicht-Entscheidung eine Variante ist, die wieder versucht, die auf die Innenpolitik verlagerten Konflikte durch Symbolpolitik (Asylpaket 2) und permanente Rechtfertigungs-Monologe in den TV-Talks aufzulösen. Es ist nur einmal mehr der Weg des geringsten Widerstands. Denn innenpolitisch ist die Bundeskanzlerin bis zu den Bundestagswahlen 2017 praktisch ungefährdet.

Daran werden auch die Landtagswahlen am 13. März wenig ändern, auch wenn sie mit schmerzhaften Verlusten für CDU und SPD  einhergehen sollten. Diese eventuellen Einbußen scheint Merkel schon eingepreist zu haben in ihre Strategie des Nicht-Handelns. Ihre Aussage bei Frau Will: Wenn die Problemlösung für die Migrationskrise greift, dann werde auch der Zuspruch für die AfD wieder zurückgehen.

Einstweilen, während diese Zeilen geschrieben werden, warten die Deutschen auf die Fortsetzung des ewigen Gesprächs mit den EU-Regierungschefs am 7.März. Eine wie auch immer geartete und von der Kanzlerin beschworene europäische Lösung wird es dort eher nicht geben. Aber auch später nur, darauf sollten wir Beobachter uns einstellen, wenn Deutschland den Löwenanteil der Kosten trägt. Eine Politik des Redens – in letzter Konsequenz eine Politik der Schwäche – hat eben ihren Preis.

Aber versuchen wir, nicht alles in Grau und Schwarz zu malen. Man könnte Merkel zu Gute halten, dass sie den Bürgern den Anblick von menschlichem Leid ersparen oder diesen doch zumindest abmildern will, indem sie dem Mitleids- und Hilfe-Impuls vieler Deutscher Raum schafft. Es bleibt aber abzuwarten, wie lange eine Mehrheit noch bereit sein wird, die ökonomischen Kosten und sozialen Lasten für das Gemeinwesen zu schultern.

Öffentliche Debatte über das Politische nötig

Eine Lehre kann aus dieser politischen Fehlleistung der Bundesregierung aber wohl gezogen werden. Wir brauchen ausgehend von der Werteordnung des Grundgesetzes eine öffentliche Debatte – ohne Scheuklappen, Ausgrenzung, Sprechverbote und Erziehungsimpetus – über Kernbestandteile des Politischen: Es gilt zentrale Elemente des Politischen öffentlich neu zu durchdenken und regelrecht zu rekonstruieren angesichts des Merkelschen-Christdemokratisch-Grünen-Sozialdemokratischen Demontageprozesses.

Dazu gehören etwa: Wie lässt sich nationales Interesse für eine Mittelmacht wie Deutschland definieren, was bedeutet nationale Politik in einer globalisierten Welt, ist das Konzept der Staatsräson noch sinnvoll, was bedeutet Souveränität, was heißt Macht innen– und außenpolitisch und für welche Ziele kann Deutschland seine Machtmittel in die Waagschale werfen? Aber auch, was bedeutet Freiheit des politisch Andersdenkenden? Gibt es innenpolitisch eine strukturelle Gewalt, die ein Schweigen vieler verursacht und die den Prozess der politischen Meinungsbildung verfälscht?

Vielleicht stellt sich dann ja heraus, dass dies alles schon obsolet ist. Vielleicht erleben wir ja den Abschied von einer uns bekannten  Weltordnung und müssen erkennen, dass weder wir als einfache Bürger noch unsere politischen Eliten die Kraft haben, den Auflösungsprozess des Politischen und das Entstehen des Anderen, Neuen aktiv zu gestalten. Vielleicht gilt es zur Kenntnis zu nehmen, dass ein Land wie Deutschland nur das Objekt einer Geschichte ist bzw. sein kann, die von anderen gemacht wird, zum Beispiel den USA, von Russland, von China, oder auch von Syrien, Saudi-Arabien oder der Türkei. Aber solange der Weltstaat noch nicht existiert und stattdessen weiterhin Staaten angesichts von inneren und äußeren Gegnern um ihren Bestand und ihren Anteil an den Ressourcen der Welt kämpfen, solange wird auch Deutschland um Entscheidung, um Handeln und um den Einsatz von Machtmitteln, wie begrenzt sie auch immer sein mögen, nicht herumkommen.

Wer in der Migrantenkrise eine andere Politik will, der muss sich wohl bis zu den Bundestagswahlen gedulden. In Zeiten der Ungeduld, der Ungewissheit und des Zweifels mag es helfen, doch wieder bei der Bibel Zuflucht und Rat suchen, wenn auch nicht im Neuen Testament mit seiner Bergpredigt, sondern im Alten Testament. Etwa bei einem Spruch des Propheten Jesaja, der gegen die Feinde Israels geweissagt und das Kommen des Messias angekündigt hat. Max Weber zitiert ihn in seinem Vortrag über „Wissenschaft als Beruf“ (1919), ein Vortrag, der tief geprägt ist von Webers Pessimismus und Ungewissheit angesichts der politischen Zukunft Deutschlands nach dem verlorenen Weltkrieg: „Es kommt ein Ruf aus Seir in Edom: Wächter, wie lang noch die Nacht? Der Wächter spricht: Es kommt der Morgen, aber noch ist es Nacht. Wenn ihr fragen wollt, kommt ein ander Mal wieder.“

Dr. Joachim Stark ist Politikwissenschaftler und Publizist.

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