Europa darf nicht an Deutschlands Eigenmächtigkeit zerbrechen

Soll Europa in dieser existenziellen Krise aus seinem verhängnisvollen Dissens in der Flüchtlingsfrage wieder herausfinden, liegt es vor allem an Deutschland, die durch sein eigenmächtiges Vorgehen verursachte Destabilisierung Europas nach innen und außen zu beenden und wirksame Schritte zu neuer Geschlossenheit einzuleiten.

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Gastautor Wolfgang Müller-Michaelis widmet den Beitrag Werner Zimprich, dem ehemaligen deutschen Botschafter im Jemen von 1998 bis 2003.

Wenn einem Autofahrer auf seiner Seite der Autobahn gut zwei Dutzend Fahrzeuge entgegenkommen, ist er im Überlebensinteresse aller Beteiligter gut beraten, so schnell wie möglicnh die Fahrtrichtung zu wechseln und sich in den allgemeinen Verkehrsstrom wieder einzugliedern. Übertragen auf das Solidaritätsgebot der 28 Mitgliedsländer umfassenden Europäischen Union wäre es für ein Land, das versucht, seine eigenen Vorstellungen im Alleingang und gegen die anderen durchzusetzen, ebenfalls angezeigt, im Interesse der gemeinsamen Ziele zum geschlossenen Handeln zurückzukehren. In diesem Sinne sollte die ohne Beteiligung Brüssels, Berlins und Athens abgehaltene Wiener Balkan-Konferenz nicht als Fluch der bösen deutschen Tat beim unsolidarischen Vorgehen in der Flüchtlingspolitik sondern als dringender Appell zu überfälliger gemeinsamer Aktion verstanden werden.

Die deutsche Rolle beim europäischen Dissens in der Flüchtlingsfrage

Angesichts der Gefährdungen, denen der internationale Frieden hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten und siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ausgesetzt ist, überwiegen bei Einschätzung der krisenhaften Zustände in den Europa benachbarten Regionen, d.h. in der Ukraine, im Nahen Osten sowie in Teilen Afrikas eher die weniger zuversichtlich stimmenden Tendenzen einer Eskalation und Ausweitung der Konflikte. Was den Nahen Osten angeht, wird in den Analysen der politischen Beraterstäbe des Westens fatalerweise immer wieder übersehen, dass es sich beim Syrienkrieg nicht um eine nationalstaatliche Auseinandersetzung der regionalen Mächte sondern um ein Eskalationsszenario des jahrhundertealten islamischen Schismas zwischen der schiitischen und sunnitischen Glaubensrichtung handelt, das durch eigensüchtige und unbeholfene kriegerische Interventionen des Westens neu entfacht worden ist.

Einer der Sponsoren des Krieges ist die mit den USA verbündete sunnitische Vormacht Saudi-Arabien, die im Verein mit ihren Glaubensbrüdern der syrischen Oppositionsarmee, der Al Nusra-Front, früher des IS, und weiterer terroristischer Vereinigungen sowie der Türkei gegen das der schiitischen Glaubensrichtung angehörende Assad-Regime zu Felde zieht, das von der Vormacht des Schiitentums, Iran, der schiitischen Hisbollah des Libanon, von schiitischen Verbänden des Irak sowie (aus strategischen Erwägungen) von Russland militärisch unterstützt wird.

Dass man von offizieller deutscher Seite die sich seit Jahrhunderten bekämpfenden Glaubensrichtungen des Islam in naiver Annahme einer dem Christentum vergleichbaren Einheitsreligion als zu Deutschland gehörig bezeichnet hat, dürfte sich als eine bedenkliche politische Fehlleistung erwiesen haben, die nicht unwesentlich zum Ansturm der islamischen Migrationsströme auf Europa beigetragen hat. Zusammen mit der gegen die Interessen seiner Partner gerichteten Offene-Grenzen-Politik hat sich Deutschland damit von Anbeginn dem Verfolgen einer Gemeinschaftsstrategie zur Überwindung der Migrationskrise entzogen. Deutschland hat, was mindestens genauso schwer wiegt, auch der Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft Europas in seiner außenpolitischen Befriedungsfunktion in der Syrienkrise geschadet, allen bewunderungswürdigen Anstrengungen von Bundesaußenminister Steinmeier zum Trotz.

Denn wer sich als unfähig erweist, das einvernehmliche Miteinander im eigenen Haus sicherzustellen, kann schwerlich beanspruchen, als Friedensstifter auf internationaler Bühne ernst genommen zu werden. Abgesehen davon wird auch der von meinungsbildenden Gruppen in Deutschland behaupteten moralischen Verpflichtung, die Flüchtlingspolitik in den Sühne-Kontext mit der deutschen Holocaustschuld zu stellen, von ausnahmslos allen europäischen Partnern mit Unverständnis begegnet. Zumal sie sich auch in dieser Sache als Leidtragende eines die europäische Solidarität sprengenden Alleingangs sehen.

Das Versagen der Vereinten Nationen in der Migrationskrise

Durch das – ohne Absprache mit den Nachbarn – Vorpreschen Deutschlands beim Signalisieren an die Flüchtlingscamps und Migrationsströme in Vorderasien, Nahost und Afrika, sie würden in Deutschland und im übrigen Europa unbegrenzte Aufnahme finden, ist der in dieser Sache hauptverantwortliche Akteur, die Vereinten Nationen, an den Rand gedrängt und quasi zum Beobachter des sich hochschaukelnden internationalen Dramas degradiert worden. Der gerade neu ins Amt getretene Hochkommissar des UNHCR, Fillipo Grandi, fand es sogar angemessen, die Europäer zu ermahnen, die Deutschen bei dieser Mammutaufgabe nicht allein zu lassen. Auf die Idee, die dem akuten Kriegsschauplatz benachbarten reichen Golfstaaten zur Mithilfe aufzufordern oder gar die klassischen Einwanderungsländer USA, Kanada und Australien in ein internationales Kontingentierungssystem einzubinden, ist der Kommissar zusammen mit den hochbezahlten Beraterteams seiner Organisation merkwürdigerweise bisher nicht gekommen.

Verstörend ist auch, dass das UNHCR inmitten der größten Migrationskrise, die die Welt in der jüngeren Geschichte gesehen hat, offenbar mit dem Stand der Migrationsforschung, wie er etwa von Oxford-Professor Paul Collier seit Jahren vertreten wird, nicht vertraut zu sein scheint. Statt Deutschland und Europa wie selbstverständlich als Zielgebiet von Abermillionen Migranten aus aller Welt festzuschreiben, ist der Collier‘sche Lösungsansatz darauf gerichtet, der Migrationskrise in regionaler Nachbarschaft der Herkunftsgebiete und durch Konzentration der internationalen Diplomatie auf Befriedung der Krisengebiete verbunden mit der Vorbereitung auf rasche Rückkehr der Menschen in ihre Heimatländer Herr zu werden. So besteht auch nach Auskunft des britischen Botschafters in Berlin, Sebastian Wood, „die Politik Großbritanniens weniger darin, Flüchtlinge aufzunehmen. Wir wollen gezielt den Nachbarländern Syriens helfen“.

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