Henryk M. Broder: „Das ist ja irre!“

Broders Rat in den irritierenden öffentlichen Erzählungen unserer Zeit: Schreiben Sie auch ein paar Monate lang ein Tagebuch, "Sie werden sehen, außer dem jeweiligen Datum wird sich kaum etwas ändern."

Lesen Sie Broders neues Buch nicht in einem Rutsch durch. Genießen Sie es in homöopathischen Dosen – sonst wirrste irre. Sollten Sie es aber doch kompakt konsumieren und danach nicht depressiv sein, sind Ihre Immunkräfte intakt.

Coole Socke Broder

Das ganze erste Halbjahr lang hat Henryk M. Broder Tagebuch geführt. Diese 181 Tage hat ja jeder von uns auch erlebt und politisch Tag für Tag ertragen. Broder hat einen nach dem anderen, ohne Rücksicht auf die 5-Tage-Woche, auf den jeweils größten Irrsinn eingedampft. Während ich Broders Tagesfolge wie auf einer Gebetskette durch die Lesefinger gleiten lasse, reißt es mich hin und her zwischen Lachen und Weinen. Roland Tichy sagt, das Weinen drängt sich zunehmend in den Vordergrund.

„Andere sammeln Bierdeckel oder Briefmarken,“ schreibt Broder in seinem Vorwort, „ich sammle Entgleisungen, Fehlleistungen, Täuschungen.“ Deshalb habe „die Idee zu diesem Tagebuch einfach in der Luft“ gelegen „als Chronik des laufenden Irrsinns, der im Gewand der Normalität und dem Gestus ‚Wir retten die Welt‘ daherkommt.“ Von diesem Gestus spricht Henryk Broder sechs Wochen, bevor Angela Merkel ihre Version des Obama-Slogans, „Yes, we can“ in die Formel kleidete: „Wir schaffen das.“

Broder schließt zwar nicht aus, dass er „der Irre vom Dienst“ ist und die von ihm für gaga Gehaltenen „pumperlgsund sind.“ Aber: „Wer oder was irre ist, hängt davon ab, wer in einer Gesellschaft das Sagen und die Deutungshoheit hat.“ In seinem Tagebuch ist das der Autor, von dem meine Kollegin Sofia Taxidis sagt, „Broder ist so eine verdammt coole Socke“.

Die Äußerungen von Politikern und Journalisten, in denen sie hohle Phrasen mit einem schon fast berufsbedingt krankhaftem Hang zum Pleonasmus formulieren, zerlegt Broder in der Luft. Die Luftballons ihres gebetsmühlenhaften Widerkäuens der immer gleichen Leerformeln zerplatzen unter Broders gezielten Stichen. Ich habe keine Strichliste geführt, aber Frank-Walter Steinmeier dürfte die Hitliste in Broders sezierenden Notizen anführen.

Pleonasmus

Aber erstmal ist Oberbürger Fritz Kuhn dran, der bei einer Anti-Pegida-Demonstration in Stuttgart über Pegida-Demos „diskriminierende Hetze“ sagt und aufruft, sich „nicht zu Mitläufern und zum Handwerkszeug von rechtsradikalen Neonazis“ machen zu lassen. Broder: „Vermutlich reitet er täglich auf einem weißen Schimmel ins Rathaus, wo er im Dienste der Zivilgesellschaft härteste Schwerstarbeit verrichtet. Es könnte aber auch sein, dass es im Schwäbischen nicht nur die Kehrwoche, sondern auch wohlwollende Hetze und linksradikale Neonazis gibt.“

Kuhn war Broder „schon vor fast zehn Jahren durch eine extrem idiotische Stellungnahme aufgefallen“, als dieser die Mohammed-Karikaturen in Jyllands-Posten mit antisemitischen Karikaturen im Stürmer verglich: „Was in etwas so stimmt, als hätte er gesagt, das Essen in der Stuttgarter Rathauskantine schmecke wie die Schonkost in Auschwitz.“

Elmar Brok, Langzeit-Europa-Abgeordneter seit 35 Jahren, zitiert Broder im Statement bei der ARD, wonach erfolgreiche Politik zur Folge habe, dass ein Austritt Griechenlands  „nicht mehr die Dominoeffekt-Wirkung (sic!) hätte.“ Broder: „Der Dominoeffekt entfaltet keine Wirkung mehr, aber die Basis ist noch immer die Grundlage des Fundaments.“

Islamischer oder islamistischer Terror

Dem Umgang mit dem Zusammenhang von Islam, Islamismus und Terror widmen sich viele Tagebuch-Einträge. Nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo in Paris zitiert Broder die Tagesschau: „Bei der Geiselnahme im Südosten von Paris starben gestern vier Geiseln – wohl alle durch die Schüsse des später getöteten Geiselnehmers.“ Broder notiert zu einem Beitrag von Margot Käßmann für BILD, einem Berliner Taxifahrer habe sie auf die Frage nach dem Anschlag geantwortet: „Mir tun die Menschen so leid. Und ich finde schlimm, dass jetzt wieder alle Muslime dafür verantwortlich gemacht werden.“

Der Islam hat nichts mit dem Islamismus zu tun? Broder: „Noch witziger wäre es nur, wenn sie jeden Zusammenhang zwischen Alkohol und Alkoholismus leugnen würden.“ Und: „Es gibt ‚moderate‘, ‚radikale‘ und ‚fanatische‘ Islamisten. Allein diese Nuancierung zeigt, dass der Islamismus nicht das Gegenteil vom Islam ist, sondern eine seiner Spielarten.“

22 EU-Apparatschiks

Ein langes und inhaltloses Interview von Marietta Slomka mit Martin Schulz über dessen Athenreise regt Broder zur Aufklärung über die Rollen in Brüssel an: „Der Präsident führt in den Plenarsitzungen des Parlaments den Vorsitz und leitet die Sitzungen der Konferenz der Präsidenten (7 Fraktionsvorsitzende) und des Präsidiums des Parlaments (14 Vizepräsidenten). Der Präsident ist für die Anwendung der Geschäftsordnung des Parlaments verantwortlich und leitet folglich sämtliche Arbeiten des Parlaments und seiner Organe.“ Broders Fazit: „Diese 22 Amtsträger bilden das kleine EU-Parlament. Dieses Nadelöhr muss alles passieren, bevor es ins Plenum kommt. Die Abstimmungen sind dann reine Formsache, wie früher im Parlament der DDR … 22 Apparatschiks, die 500 Millionen Europäer vertreten.“

Roth, Precht, Hofreiter, Conchita und Merkel

Die Reise von Claudia Roth in den Iran spießt Broder als „total irre“ auf: „Daheim in Deutschland kämpft Frau Roth für den völligen Ausstieg aus der Atomkraft, dem Iran aber möchte sie ‚eine zivile Nutzung der Atomkraft‘ ermöglichen. Weil das die Lage in Syrien und im Irak verbessern und für Israel eher mehr als weniger Sicherheit bedeuten würde. Da ist sie sich ganz sicher.“

An den Verhandlungen um den Bürgerkrieg in der Ukraine zeigt Broder Endlosschleifen des immer wieder Gleichen und Folgenlosen mehrfach auf. Merkel, Steinmeier und Gabriel kriegen ihr Fett weg wie Klaus Kleber und andere Medienleute. Aber auch „Philosophendarsteller Richard David Precht“ bleibt nicht verschont: Wenn dieser sage, „weder der Anschlag auf das World Trade Center war ein echter Anschlag auf die Freiheit, sondern ein Anschlag auf die Hegemonie Amerikas, und der Anschlag auf die Journalisten (von Charlie Hebdo) war ein Anschlag auf die wenigen Leute, die es gewagt hatten, Mohammed zu karikieren“, dann sei das „Ausdruck der Kaltschnäuzigkeit, die zum Handwerkszeug jener abgebrühten Pseudointellektuellen gehört, für die ein Unglück erst dann zur Katastrophe wird, wenn es sie selbst erwischt.“

Anton Hofreiter hat in einer Genderrunde bei Plasberg gesagt, er habe „viele weibliche Freundinnen“. Broder: „Hätte Hofreiter gesagt, er habe ‚viele Freundinnen‘, wäre das der Auslöser für einen Shitstorm gewesen, der zu seinem Rücktritt vom Amt des Fraktionsvorsitzenden geführt hätte. Mindestens. ‚Weibliche Freundinnen‘ aber lässt den Verdacht auf einen, im Sinne der Grünen, unmoralischen Lebenswandel gar nicht erst aufkommen. Promiskuität, nein danke!“

„Das Verlieren haben wir ja gelernt“, spottet Henryk Broder, „Kunersdorf, Verdun, Stalingrad. Siebenjähriger Krieg, Erster Weltkrieg, Zweiter Weltkrieg. 1759, 1916, 1943. Dem gegenüber stehen die deutschen Siege bei Fußball-Weltmeisterschaften 1954, 1974, 1990 und 2014 und die Wahl von Kardinal Josef Ratzinger zum Papst Benedikt XVI. im Jahr 2005. Man könnte von einer historisch ausgewogenen Bilanz sprechen … wäre da nicht der letzte Eurovision Song Contest … Es liegt nicht an uns, aber es hat was mit uns zu tun. Man ist nicht ungestraft Klassenbester. Angela Merkel bestimmt, wo es in der EU langgeht, ihr Wort ist Gesetz. Überall in Europa knirscht es. Nur in Deutschland läuft alles wie geschmiert.“

Wie gesagt, Broders Tagebuch endet Mitte 2015. Am 29. Juni lese ich: „Hellas war nur ein Gruß aus der Küche, ein kurzes Wetterleuchten in der Ferne. Der richtige Sturm steht uns noch bevor. Aber hinterher wird alles besser. Da gibt uns die Kanzlerin ihr Wort drauf.“ Wie sagt Beckenbauer? Schaunmermal. Dannsegnmersscho.

In Henryk Broders Tagebuch schau ich sicher noch öfter rein – und um es ihm gleich zu tun: öfter, nicht öfters.

Henryk M. Broder: Das ist ja irre! Mein deutsches Tagebuch. Albrecht Knaus Verlag 2015.

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