Die Mitte ist stimmlos

Handeln durch Nichthandeln: Das ist die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Der Protest dagegen radikalisiert sich ins Unerträgliche. Die politische Mitte bleibt so stimm- wie machtlos, so dass die radikalen Ränder anschwellen.

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Das Entsetzen ist groß, als gestern ein Video viral geht, welches aufgebrachte Bürger vor einem Bus mit Flüchtlingen zeigt. „Wutbürger“, „besorgte Bürger“ oder schlicht „Mob“ werden sie in den Artikeln und in den Kommentarleisten daraufhin genannt. Und ja, ich konnte mir das Video auch nur einmal anschauen, weil es das Maß, in dem ich Fremdschämen ertragen kann, eindeutig überschritten hatte.

Diese Wut darf sich nicht gegen Menschen richten, die lediglich Gebrauch von einem verbrieften Recht machen, die sich zudem von der Kanzlerin eingeladen fühlen dürfen. Wer ein Problem mit der Asylpolitik hat, der entlädt seinen Unmut nicht bei Flüchtlingen, der steht im Bestfall vor dem Bundestag. Hier offenbart sich, wer Rassist ist und einfach nur das Fremde ablehnt und diese Ablehnung dem Fremden auch unmittelbar mitteilen will – und wem es um die differenzierte Auseinandersetzung und die Kritik an einer Asylpolitik geht, die am Ende ein Risiko für alle darstellt – vor allem für jene, die unsere Hilfe uneingeschränkt verdienen.

Meine Meinung tut jedoch nichts zur Sache. Was bleibt, ist allerdings, dass diese Szenerie letztlich nur gezeigt hat, worauf seit Wochen von liberaler und konservativer Seite hingewiesen wird: Die Stimmung droht nicht zu kippen, sie ist längst gekippt. Und sicherlich empfindet man tiefe Empörung, wenn man solche Bilder sieht, aber wer davon noch überrascht ist, der hat seinen Kopf in den letzten Wochen wirklich verdammt tief in den Sand gesteckt. Jetzt wird vielerorts Clausnitz gegen Köln aufgerechnet. Grüne machen Horst Seehofer dafür verantwortlich – so viel politische Brunnenvergiftung war noch nie. So absurd dies ist, so tief und unüberbrückbar reißen Gräben auf. Verbrechen werden für Politik instrumentalisiert; beidseitige Tätlichkeit und Aggression ersetzt die Debatte. Dass jetzt die bundesweit überforderte Polizei verantwortlich gemacht wird, macht die Sache nicht besser. Sie hat längst den Schwarzen Peter für eine Lage, die sie nicht zu verantworten hat – und für die sie trotzdem die Helme und Köpfe hinhalten muss.

Natürlich kann man empört sein und jede Diskussion darüber ablehnen, oder man akzeptiert die Tatsache, dass sich hier eine Spannung ungeahnten Ausmaßes aufbaut – und das, wie es zum jetzigen Zeitpunkt aussieht – nicht nur von deutscher Seite aus. So sickern allmählich erste Informationen durch, nach denen einige Asylbewerber zuvor massiv mit „Kopf-ab-Geste“, Stinkefinger und (wie auf dem Video zu sehen ist) mit Spucken provoziert haben sollen (siehe Polizeibericht). Clausnitz also nicht nur ein Beispiel deutscher Fremdenfeindlichkeit, sondern ein Vorgeschmack auf den künftigen Kampf der Kulturen hierzulande?

Zweifelsohne gibt es keine Entschuldigung für derlei Taten, aber es gibt Erklärungen für die zunehmende Polarisierung. Nicht für den Rassismus, aber für die gekippte Stimmung, die zunehmende Wut. Da ist der fehlende Raum, seinen Unmut über die Flüchtlingspolitik politisch angemessen zu äußern. Wenn die Politik über die Köpfe der Bürger hinweg entscheidet, wenn viele Medien monatelang konträr zur breiten Wahrnehmung und entgegen der Tatsachen berichtet, damit die Stimmung nicht in eine ungewollte Richtung kippt, dann ist der einzige Ort, der noch bleibt, um dagegen aufzubegehren für gewöhnlich die Straße. Die einzige Möglichkeit der Handlung, der Protest. Was aber, wenn der Raum der Straße wie aktuell verbrannt ist?

Demonstrieren, protestieren in Deutschland ist eine ziemlich einfache Angelegenheit. Die Anmeldung einer solchen Veranstaltung für deutsche Verhältnisse fast lächerlich unbürokratisch. Die Einfachheit des Verfahrens und die Beliebigkeit der Themen birgt jedoch die Gefahr der Institutionalisierung des Protests (der alte Linke Marcuse hat dieses Phänomen einmal sehr treffend in seiner Kritik der reinen Toleranz beschrieben). Wenn Protest zur Selbstverständlichkeit in einer Gesellschaft wird, wenn er gesetzlich eingebettet ist und so zum festen Bestandteil wird, dann büßt er zwangsläufig an dem ein, was für seine Wirkung am Wichtigsten ist: Das Moment der Überraschung und damit die Durchschlagskraft. Das vermeintlich Anormale wird zur Normalität und das ist sein Tod. Der Protest wird zur institutionalisierten Gewohnheit. Oder denken Sie noch jeden Montag an die Pegida-Demonstrationen in Dresden?

Protest wirkt dort, wo er unüblich, wo er mitunter verboten ist. Die Montagsdemonstrationen der DDR belegen das genauso wie jede andere Revolution in einem Unrechtsregime, in dem die freie Meinungsäußerung ein Risiko für Leib und Leben darstellt. Nun will man sicherlich nicht zu diesen Zeiten zurück. Das Recht auf Versammlung und Demonstration ist ein hohes Gut moderner, liberaler Gesellschaften. Wir sind nicht unfreier, machtloser als die Menschen in unfreien Gesellschaften, weil der Protest bei uns institutionalisiert ist – das zu glauben, ist gefährlicher Schwachsinn. Es bedeutet jedoch, dass die Hürde für den Protest höher liegt. Dass er, wenn er wahrgenommen, ernst genommen werden will, keine kleine Randerscheinung sein darf.

Ich glaube, dass das Thema der Asylpolitik der Kanzlerin sehr wohl kein kleines Thema und dass der Protest dagegen mittlerweile mitnichten eine Randerscheinung ist, aber die Straße ist dafür verbrannt. Auf der Straße ist Pegida oder Refugees Welcome. Dazwischen ist nichts und das ist das Problem. Pegida, ich sagte es bereits, will ich nicht sein. Vielen anderen geht es ähnlich. Refugees Welcome ist man aber auch nicht. Es ist das gleiche Problem, wie es monatelang im Internet existierte und an mancher Stelle immer noch existiert: Es gibt keine Mitte, nur links und rechts. Hat sich die Lage im Online-Diskurs dahingehend verbessert, ist sie auf der Straße nahezu unverändert. Das mag dem ein oder anderen nicht weiter schlimm erscheinen. Protest auf der Straße ist in der Regel das letzte Mittel, sich als Bürger der Politik, die einem nicht passt, entgegenzusetzen. Die Hürde ist für viele auch ohne Pegida und Co. und auch bei anderen Themen abseits der Flüchtlingskrise groß. Zudem können wir uns eigentlich nicht beschweren. Mit den sozialen Netzwerken, dem Internet an sich, wurde ein riesiger Raum geschaffen, dem eigenen Unmut Luft zu verschaffen. Aber er nützt, wie sich zeigt, so lange er im Internet verbleibt, nicht viel. Der Raum der Straße bleibt in letzter Instanz der Entscheidende und es ist gefährlich, dass er gerade in diesen Zeiten für die differenzierte Kritik an der Politik nicht zugänglich ist. Dass er sich aufteilt, in rechts und links und der Mitte den Raum entzogen hat.

Was wir dadurch erleben, ist ein Gefühl der Ohnmacht in neuer Qualität. Das Gefühl, einer Politik hilflos als Zuschauer gegenüberzustehen, deren Entscheidungen oder Nichtentscheidungen mit jedem weiteren Tag weitreichendere Folgen haben werden. Weder die Talkshows, noch das Parlament, die Medien und all die vielen Diskussionen in den sozialen Netzwerken haben irgendetwas verändert: Die Grenzen dieses Landes bleiben unbegrenzt offen und die Identifizierung der Kommenden unterbleibt; Nachbarschaften werden verändert, die Nachbarn bleiben ungefragt. Das für jeden erkennbare Versagen der Verwaltungen, die nicht einmal eine zentrale Datenbank aufzubauen in der Lage sind, das Überschlagen der bewussten Kontrollaufgabe an den Grenzen zum Kontrollverlust im Inneren geht einfach Tag für Tag ungerührt weiter. Was bleibt, ist die Straße, aber da ist Pegida und Pegida will ich auch jetzt wie viele andere weiter nicht sein.

Ja, Politik braucht Zeit. Vor allem jene, die nicht auf kurzfristige Effekte abzielt und nicht nur das eigene Land tangiert, sondern auch viele andere. Angesichts von 100.000 weiteren Flüchtlingen zu Beginn dieses Jahres, wird das zeitliche Fenster für Entscheidungen jedoch immer kleiner. Das betrifft die schlichten Kapazitäten dessen, was dieses Land zu leisten imstande ist, genauso wie die Geduld vieler Menschen.

Was bleibt sind Bürger, die sich in immer stärkerem Maße entdemokratisieren. Verzweiflung, Ohnmacht sind neben blinder Pseudo-Moral die schlechtesten Ratgeber, wenn es darum geht, eine Lage im Griff zu behalten, den sozialen Frieden zu wahren und die sachliche Diskussion und sinnvolle, notwendige politische Prozesse zu erhalten und möglich zu machen. Einen Vorgeschmack auf den Kontrollverlust kann man bereits jetzt im Internet ausmachen. Die Verrohung der Sprache, die teils ungebremste Wut und Unsachlichkeit, hat längst eine erschreckende Qualität angenommen.

Ein Ausschnitt dieses Hasses war gestern in Clausnitz  auf der Straße zu beobachten und noch immer will man sich ob dieser Bilder schämen. Und ja, ein Teil des Hasses wird man auch nie wegbekommen, weil er schon lange vor der Krise da war, aber man kann dafür Sorge tragen, dass er nicht auf große Teile der Bevölkerung übergreift. Eine Möglichkeit, dies zu verhindern, wäre, eine handelnde Politik. Die andere, die Freigabe des öffentlichen Raumes für den Protest der Mitte. In einem Land, in dem jedoch gerade der auf die Straße getragene Zweifel sofort als rechts eingestuft wird, ein schwieriges Unterfangen. Die Abgrenzung zu Pegida erscheint kaum möglich. Und so entlädt sich weiter alle Wut im Internet. Und sie wird weiter zunehmen. Was das für die Demokratie bedeutet, ist nicht abzusehen.

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